Mahlermania

Deutsche Oper Berlin: Nico and the Navigators lassen ein Tableau Vivant entstehen, das um das Leben des Komponisten Gustav Mahler kreist.

Mehr als bei jedem anderen Komponisten stehen bei Gustav Mahler (1860-1911) Biografie und künstlerisches Schaffen in einer direkten Wechselbeziehung. Manische Getriebenheit und Größenwahn auf der einen Seite, Sehnsucht nach verlorenen Paradiesen und die Gefühle von Außenseitertum und Scheitern auf der anderen, lassen sich in den Werken Mahlers ebenso wie in seinen persönlichen Lebensumständen finden. Diese Analogie hat immer wieder Künstler verschiedener Sparten zur kreativen Auseinandersetzung gereizt – wohl auch weil das Leben Mahlers prototypisch die Konflikte des modernen Menschen aufzeigt. Diese Grundsituation einer persönlichen Lebens­erfahrung, die durch den schöpferischen Prozess Allgemeingültigkeit gewinnt, ist auch der Ausgangspunkt von „Mahlermania“, der Eröffnungsproduktion der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin.

 

Als singende und tanzende Ganz­körperpoeten entdecken Nico and the Navigators die Höhenflüge und Abgründe einer bewegenden Epoche zwischen Spätromantik und Moderne. Ausgehend von Mahlers Liedschaffen lässt die Berliner Theaterkompanie zusammen mit Sängern und Musikern der Deutschen Oper ein Tableau Vivant entstehen, das um das Leben des Komponisten kreist. Wie in all ihren Arbeiten nutzen die Ensemble­mitglieder neben den musik­­historischen und biografischen Hinter­gründen dabei auch ihre eigenen Empfindungen als Spielmaterial. 

 

Mit ihrer einfühlsamen und suggestiven Theatersprache begegnen die Navi­gators Zuständen, die vor allem im Spätwerk Mahlers erlebbar werden: Der elementaren Erschütterung einer Lebens- und Werteordnung aber auch Erfahrungen der Befreiung von inneren wie äußeren Zwängen. Mahlers Lieder lassen sich in dieser Hinsicht nicht nur in eine Abfolge bringen, die einen Entwicklungs­­prozess nachzeichnet (von den Gesängen der Jugendzeit bis zum „Lied von der Erde“) sondern öffnen in ihrer Bildhaftigkeit auch einen großen Assoziations­raum, der durch Sänger, Performer, Musiker, Licht und Raum gestaltet wird. In diesem abstrakten und zugleich radikal-poetischen Musiktheater wird der Zuschauer auf nach­denkliche Weise über „mahlerische“ Denklandschaften in die zerrissene Welt des Komponisten entführt.

 

Im Dezember 2013 wurde die Dokumentation zum Entstehungsprozess von „Mahlermania“ auf Arte ausgestrahlt. Die gesamte Aufnahme der Aufführung an der Deutschen Oper Berlin kann man auf DVD erwerben. Bestellungen online unter:  http://shop.euroarts.com/

 

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Pressestimmen

Kai Luehrs-Kaiser / Berliner Morgenpost

„’Nico and the Navigators‘, das ist ein mit Kapitänin schippernder Berliner Kahn, der sich langsam dem offenen Meer nähert. ‚Mahlermania‘ bedeutet schon: große Fahrt. Da hilft kein ‚Navi’…“

Kai Luehrs-Kaiser / Berliner Morgenpost

Kann Alma tanzen? Der umfänglichen Madam', bekannt als Alma Mahler-Werfel, wäre es kaum zuzutrauen. "Nicht dass ich wüsste!", muss auch Nico zugeben. Trotzdem sind in "Mahlermania" gleich zwei tanzende Almas vorgesehen: eine ältere und eine junge. Auch Mahler kommt doppelt vor. Der Abend für Sänger und Tänzer ist für die Berliner Performance-Truppe "Nico and the Navigators" ein Aufbruch, sogar erstmaliger Ausbruch aus der Off-Szene. "Es ist das erste Mal, dass uns von einem Opernbetrieb feste Sänger für ein 'freies' Projekt zur Verfügung gestellt werden." Wer in aller Welt sind "Nico and the Navigators"? Die ursprünglich Bildende Künstlerin Nicola Hümpel versammelt seit 14 Jahren je nach Projekt unterschiedliche Mitarbeiter, Tänzer und Sänger um sich. In Berlin geschah das meist in den "Sophiensaelen" oder im "Radialsystem". Produktionen wie "Wo du nicht bist", "Anaesthesia" oder Rossinis "Petite messe solennelle" bescherten Nico samt ihrem Freund, dem Bühnen- und Kostümbildner Oliver Proske, seit 2007 eine Konzeptförderung des Berliner Senats. Letztes Jahr folgte der George-Tabori-Preis. "Nico and the Navigators", mit anderen Worten, ist ein Berliner Gewächs. Die sich dahinter verbergende Nicola Hümpel ist freilich Lübeckerin. Wie viele von dort schleppt sie ein kleines "Thomas-Mann-Trauma" mit sich herum. "Man möchte nicht immer darauf festgenagelt werden", lacht sie hell heraus. "Pruschten" würde Thomas Mann dieses Lachen nennen. Und "Hümpel" heißt noch dazu Misthaufen, lacht sie weiter. Ihre "Navigators" betrachtet sie nicht als Gäste, sondern als Mitautoren. Als Schiffsbesatzung ähnlich wie bei den großen Kähnen, die in Travemünde anlegten, wo Nico schwimmen lernte. "Nicht abtreiben mit der Luftmatratze!", wurde den Kindern immer eingeschärft. Östlich drohte noch Grenzgebiet. In die Mahler-Materie hat sich Nico tatsächlich mit Hilfe von Adorno eingearbeitet. Zuvor zählte Mahler nicht unbedingt zu ihren Lieblingskomponisten. "In Mahlers Musik ging die Sicherheit der Romantik verloren", sagt sie anerkennend. "Man verlor die Unschuld, und heute haben wir alle nur noch ein großes Fragezeichen in uns." Der Ballungsraum aus Zeitgeschichte, Leben und Musik sei bei Mahler erstaunlich dicht. So dass sie inzwischen doch noch ein "Mahlermaniac" geworden sei. In ihrem Mahler-Pasticcio aus Liedern und symphonischen Stellen wird auch das Adagietto aus der 5. Sinfonie zitiert. Durch dessen Verwendung in Viscontis "Tod in Venedig" kam die Mahlermanie in Schwung. Man dürfe es mit Mahler aber nicht übertreiben. "Den 'Mahler'-Film von Ken Russell zum Beispiel fand ich grauenhaft", so Nico ehrlich. Mahler sei "Stillstand und Galopp, Spätromantik und Moderne, Nietzsche, André Breton und Freud." Sie wolle das einem jungen Publikum nahebringen. Und die Musik aufbrechen, so dass sie nicht unbedingt runtergeht wie Butter. Tatsächlich gehört Mahler zu den sehr wenigen Komponisten, dessen Gesamtwerk dem Publikum nahezu vollständig vertraut ist. Ungewohntes tut Not. In der neuen Tischlerei kann Nico raumgreifend inmitten des Publikums spielen. Ein Guckkasten ist nicht geplant. Eines ihrer großen Vorbilder war Pina Bausch. "Durch ihre radikale Poesie, die zum schwersten gehört, was man im Theater erreichen kann." Auch Marthalers Körperslapstick und Alltagsgenauigkeit. "Nico and the Navigators", das ist ein mit Kapitänin schippernder Berliner Kahn, der sich langsam dem offenen Meer nähert. "Mahlermania" bedeutet schon: große Fahrt. Da hilft kein 'Navi'.

Ulrich Amling / Der Tagesspiegel

„Die Berliner Theatergruppe Nico and the Navigators kreuzte in den vergangenen Jahren so intensiv und gut gelaunt im Fahrwasser des Musiktheaters, dass sie nun folgerichtig zur Eröffnung in der Tischlerei festmacht.“

Ulrich Amling / Der Tagesspiegel

Doch, Baustellen können in Berlin auch fertig werden. Der Beweis dafür gelingt der Deutschen Oper – wenn auch denkbar knapp. In der neuen Experimentalbühne des Hauses riecht es noch nach Farbe, in den Toiletten fehlen die Spiegel, und was einmal eine feste Schwelle werden soll, ist zur Eröffnung noch ein wippendes Brett. Von der Zillestraße betritt man das Foyer der Tischlerei und erklimmt die Treppe zur hohen Werkhalle aus den dreißiger Jahren. Die Pläne für die Umgestaltung spendierte der Architekt Stephan Braunfels, die Umsetzung bezahlten Senat und Förderkreis. Nun hat das Haus doch bekommen, wovon Götz Friedrich immer träumte: einen Raum für Entdeckungen, für Wagnisse, für den Nachwuchs. Möglich wurde diese Diversifizierung erst unter dem Dach der Berliner Opernstiftung, die zentrale Werkstätten aufbaute. Damit verlor die Tischlerei der Deutschen Oper ihre althergebrachte Bestimmung – und bot einen Freiraum, den Dietmar Schwarz und sein Team jetzt stolz in Besitz nehmen. Mit einer feinen Einschränkung: Keinesfalls will der Intendant am Premierenabend den Eindruck entstehen lassen, die Deutsche Oper könne sich ihre zweite Spielstätte auch leisten. Schließlich versucht man gegenüber der Kulturpolitik zu belegen, dass das Haus in der Bismarckstraße strukturell unterfinanziert ist. Also verweist Schwarz darauf, dass für die Bespielung der Tischlerei künftig Drittmittel vonnöten sind, sprich: Förderer, die sich für neue Formate des Musiktheaters engagieren wollen. Zur ersten künstlerischen Raumbegehung hat sich die Deutsche Oper einen Kooperationspartner aus der freien Szene ausgesucht, der sich auch mit schlankem Produzieren und gewinnbringenden Netzwerken auskennt. Die Berliner Theatergruppe Nico and the Navigators kreuzte in den vergangenen Jahren so intensiv und gut gelaunt im Fahrwasser des Musiktheaters, dass sie nun folgerichtig zur Eröffnung in der Tischlerei festmacht. Die soll auch dem Ensemble der Deutschen Oper neue Perspektiven eröffnen. Und so kann Regisseurin Nicola Hümpel bei ihrer szenischen Fantasie „Mahlermania“ nicht nur auf ihre bewährten Schauspieler und Tänzer zurückgreifen, sondern auch auf ein Kammerorchester und die Sänger Katarina Bradic und Simon Pauly. Gerahmt von 16 Nummern aus Liedern und Symphonien Gustav Mahlers will die Produktion nicht noch mehr Anekdoten vom Komponisten und seiner untreuen Alma aufreihen – obwohl man anderes nicht recht erkennen mag: Wir nehmen unserem Mahler sein Komponierhäuschen auseinander und verwandeln es in einen Bungalow im Stil von Walter Gropius. Alma wird darüber auch nicht froh. „Piefiger Preuße“, lallt sie dem Liebhaberarchitekten missmutig hinterher und füllt sich das Glas in einem Becken, das mit Sicherheit den Canal Grande symbolisieren soll. Kokoschka baut sich eine Alma-Puppe, alle schauen begossen. Äpfel werden herumgereicht, doch vom Grahambrot, das Mahler genauso geschätzt hat, keine Spur. Den beiden wackeren Sängern hat es trotzdem sichtbar – und hörbar! – Freude gemacht in der Tischlerei, was nicht zuletzt an den wunderbaren Mahler-Arrangements von Studienleiterin Anne Champert liegen dürfte.

Klaus Geitel / Berliner Morgenpost

„Das liebenswürdige Ensemble ist mit nacktem Leib (plus Badehose) und Feuerseele dabei…“

Klaus Geitel / Berliner Morgenpost

Es findet sich im hintersten linken Teil der Deutschen Oper und schießt mächtig zum Himmel hinauf. Es diente einst dem Hause als Malersaal. Jetzt hat man den mächtigen Saal gründlich renoviert und ein stabiles Stahlgerüst Gerüst mit vierzehn Reihen hineingewuchtet. Von hoch oben sieht man zu seinen Füßen auf die kleine, flache Bühne hinunter. Immerhin hat sie Oliver Proske bei der Eröffnungspremiere geradezu zu verzaubern verstanden: "Mahlermania" nennt sich das Uraufführungsspektakel, zu dem sich die Deutsche Oper mit dem Ensemble "Nico and the Navigators" zusammenfand. Es umkreist in völlig undurchschaubaren Anspielungen die schwierigen Verhältnisse zwischen Gustav Mahler und seiner Frau Alma: diesen tragischen Veitstanz der Liebe, der Mahlers Musik bis auf den heutigen Tag bewunderungswürdig befruchtet. Kein Wunder also: der Schwerpunkt des szenisch reichlich geheimnisvollen Geschehens liegt auf der Musik Mahlers und ein kleines, aus den Musikern der Oper gebildetes Orchesterchen unter dem ausgezeichneten Moritz Gnann spielt sie in ihren wechselnden Bearbeitungen auf sehr eindringliche Weise. Fast alle Stücke, sechzehn sind es an der Zahl, haben instrumental zusammen gestutzt werden müssen, klingen aber in ihren Reduktionen durch Anne Champert und Rainer Riehn ganz ausgezeichnet. Eine Handvoll Lieder sind dabei, am sinnlichsten von Mezzosopran Katarina Bradic’s vorgetragen, der überdies der Bariton Simon Pauly stimmtüchtig zur Seite steht. Zwei Schauspieler und drei Tänzer ergänzen das liebenswürdige Ensemble, das Nicola Hümpel einstudiert hat. Hauptrollen fallen dabei einer Fülle von Pelzmänteln, Pelzjacken, Pelzschals, wohl auch Pelzhandschuhen zu. Außerdem einem Haufen von wirr durcheinander geschmissenen Notenblättern großen Formats. Das Ensemble ist mit nacktem Leib (plus Badehose) und Feuerseele bei der dramatisch aufgeheizten, aber verschwiegenen Sache. Das liegt auch daran, dass der hohe Raum akustisch die Sprecher mit ihren möglicherweise aufklärenden Aussagen nicht gerade begünstigt. Man versteht zeitweilig kein Wort. Immerhin wird das Auge durch den steten Umbau des Komponierhäuschens ständig aufs angenehmste beschäftigt. Es geschieht immer wieder manches Spektakuläre, man weiß im Grunde nur nicht wozu. Und das satte, aber nie langweilige knappe zwei Stunden hindurch. Dafür sorgen schon die kleinen akrobatischen Einlagen, die Kopfstände, die schrägen gegenseitigen Abstützungen, Überschläge, Rouladen. Am Ende setzt es reichen anhaltenden Beifall aus Freundeshand.

Sandra Luzina / Deutsche Oper Magazin (Tagesspiegel)

„Mit der Mahler-Hommage weiht die Kompanie einen neuen Spielort der Deutschen Oper ein: Die ‚Tischlerei‘. Die ehemalige Schreinerei wurde zu einer Experimentierbühne ausgebaut. Hier sollen sich Oper, Tanz, Performance und Theater neu begegnen. Der Auftakt mit Nico and the Navigators ist verheißungsvoll, denn die Gruppe hat mit ihrer Spiellust und ihrem Stilgefühl für frischen Wind im Musiktheater gesorgt…“

Sandra Luzina / Deutsche Oper Magazin (Tagesspiegel)

Der Name klingt nach einer Popband: Nico and the Navigators. Doch Nico ist keine singende Sirene, sondern der Spitzname der Theaterregisseurin Nicola Hümpel. Die gebürtige Lübeckerin, die zunächst an der Hochschule für bildendende Künste in Hamburg und später am Bauhaus Dessau bei Achim Freyer studierte, bemerkte schon früh, dass sie nicht nur in einer Disziplin zu Hause ist. Noch in Dessau gründete sie 1998 zusammen mit dem Bühnenbildner Oliver Proske, ihrem Lebensgefährten, die Gruppe Nico and the Navigators – und brachte das Ensemble schnell auf Erfolgskurs. „Wir sind Radikalpoeten. Wir haben keine Angst, Poesie auf die Bühne zu bringen – wovor sich heute viele scheuen“, erklärt Nicola Hümpel und es klingt fast wie das Manifest der Gruppe. Als Nico and the Navigators 1999 mit „Lucky days, Fremder“ erstmals in den Berliner Sophiensaelen auftraten, rieben sich die Zuschauer verwundert die Augen. Denn hier wurde eine neue, ungemein sinnliche Theatersprache formuliert, die Sprache, Bewegung, Mimik, Klang, Licht, Bühnenbild und Kostüm als gleichwertige Elemente verband. Nicola Hümpel, die Grenzgängerin zwischen den Künsten, ersann ein Bildertheater von absurdem Witz und schräger Poesie. Ihre Darsteller, die einen ganz unterschiedlichen professionellen Hintergrund besaßen, verwandelten sich unter ihrer formenden Hand in „Ganzkörperpoeten“, die sich beherzt in alle möglichen Schräglagen katapultierten und dabei immer mit einer choreografischen Präzision agierten. Wie hellwache Träumer balancieren sie oft am Rande des Abgrunds – selten wurde das Scheitern mit solcher Anmut zelebriert wie bei Nico and the Navigators. Wie die Enkel von Buster Keaton und Jacques Tati muten sie an, wenn sie sich etwa in den Kampf mit einer Schuhputzmaschine stürzen, die plötzlich ein Eigenleben entwickelt. Die abstrakten Gehäuse von Oliver Proske werden schnell zur raffinierten Multifunktionsfalle. Sie geben ihren Zweck nicht preis, verändern sich aber im Gebrauch. Doch auch für ihre eigenwilligen, bisweilen auch abstrusen Formulierungskünste sind die Navigators berühmt. Es sind Spiele fast ohne Worte, die sie ersinnen, doch die wundersamen Sätze mit ihrer verdrehten Dada-Logik muten wie verschlüsselte Botschaften an. Sie stecken den Horizont des Nicht-Verstehens ab und stiften eine Art hellsichtiger Verwirrung. So verrücken Nico and the Navigators die Wahrnehmung von Welt, bringen den Sinn zum Tanzen – und das mit einer spielerischen Leichtigkeit, einem zarten Spott und einer sanften Melancholie, was das Publikum immer aufs Neue begeistert. Nicola Hümpel versteht es, die Eigenart ihrer Akteure wirkungsvoll in Szene zu setzen. „Ich studiere meine Navigators bis ins Innerste“, sagt sie lächelnd. Mit ihren verrätselten Raum-, Klang-, Bewegungs- und Sprachbildern will Hümpel „Denklandschaften“ eröffnen. Dabei kreisen ihre Stücke immer um die Erkundung menschlicher Verhaltensweisen. Alltagsrituale werden verfremdet, Vorgänge ins Artifizielle und Absurde getrieben. Die grafische Klarheit des Bühnenbilds kontrastiert mit den schwebenden Zuständen. Nico and the Navigators zelebrieren ein Theater der Langsamkeit, das von der Kunst der Reduktion und des Weglassens lebt. Für seine Szenencollagen hat das Ensemble eine spezielle Schnitttechnik entwickelt. „In der bildenden Kunst hat mich besonders der Schnitt interessiert. Bei einer Skulptur suche ich den Moment der größten Spannung und mache einen messerscharfen Schnitt. Damit gebe ich dem Betrachter die Möglichkeit, die Linie in seiner Vorstellung selbst fortzuführen.“ Auf die koproduzierende Fantasie des Zuschauers ist das Theater von Nico and the Navigators angewiesen. Es legt immer neue Fährten aus – und verzichtet auf jedes vorschnelle Erklären. Mit Lust navigieren die Akteure dabei ins Ungewisse. Früher kam es schon mal vor, dass die Regisseurin einem Darsteller vor Beginn der Vorstellung ein Zettelchen mit einer knappen Anweisung zusteckte. Die Navigators waren immer schon Experten für diese Form des Freispiels, in denen eine hohe Konzentration, ein klares Rhythmusgefühl und eine stupende Geistesgegenwart gefordert ist. Heute sind Nico and the Navigators nicht nur eine der originellsten freien Gruppen aus Berlin – sie haben sich auch internationalen Ruhm erworben, vor allem mit ihren Musiktheater-Produktionen. Dass sie sich seit einigen Jahren verstärkt dem Musiktheater zuwenden, ist kein Zufall. „Damit kehre ich gewissermaßen zu meinen Anfängen zurück“, sagt sie lächelnd. Nicola Hümpel hat in Lübeck ein musisches Gymnasium besucht und das Geigespielen erlernt. In ihrem Elternhaus kam sie früh mit klassischer Musik in Berührung, denn ihr Vater ist ein leidenschaftlicher Wagnerianer. Es ist vor allem die Macht des Gesangs, von der sie schwärmt: „Er kann uns ins Hier und Jetzt entführen und uns etwas zeigen, das uns abhanden gekommen ist. Das ist es, was mich an Sängern reizt.“ 2006 arbeiteten Nico and the Navigators für Wo Du nicht bist erstmals mit der Musicbanda Franui zusammen; die Produktion ließ die Musikszene aufhorchen. Es folgte mit „Obwohl ich Dich kenne“ ein kleineres Projekt für vier Schauspieler, eine Violine und ein Piano. Die Pasticcio-Oper Anaesthesia, die 2009 bei den Händel-Festspielen in Halle uraufgeführt wurde, entwickelte sich rasch zum Erfolgsstück. Ein Jahr später, im Rahmen der Händel-Festspiele 2010 präsentierte Nicola Hümpel ihre gefeierte Orlando-Inszenierung an der Oper Halle. Im Jahr 2011 widmete sich das Ensemble der Petite messe solennelle von Rossini. Die inszenierte Version der Messe, die beim Kunstfest Weimar uraufgeführt wurde, geriet zum Triumph. Die Aufführung bewies, dass Nico and the Navigators ihre musikalischen Mittel erweitert haben, sie begeisterte auch durch ihre eigenwillige Auslegungskunst. Zwischen Kyrie und Sanctum werden in der Petite messe solennelle auf höchst vergnügliche Weise Glaubensfragen abgehandelt: Welche Rolle spielt Religion heute? Welche Ersatzrituale schafft sich der Mensch, der nach Höherem strebt als dem bloßen Lebenszeitverwalten? Wenn Nico and the Navigators nun im November die Uraufführung Mahlermania herausbringen, ist das in zweifacher Weise ein Debüt. Denn zum ersten Mal in seiner 15-jährigen Geschichte kooperiert das Ensemble mit einer städtischen Berliner Bühne. Mit der Mahler-Hommage weiht die Kompanie zugleich einen neuen Spielort der Deutschen Oper ein: Die „Tischlerei“. Die ehemalige Schreinerei wurde zu einer Experimentierbühne ausgebaut. Hier sollen sich Oper, Tanz, Performance und Theater neu begegnen. Der Auftakt mit Nico and the Navigators ist verheißungsvoll, denn die Gruppe hat mit ihrer Spiellust und ihrem Stilgefühl für frischen Wind im Musiktheater gesorgt. Nicola Hümpel ist stolz auf die Unabhängigkeit ihres Ensembles – nur so ist ein kontinuierlicher Forschungsprozess möglich, als den sie ihre Arbeiten begreift. „Wir haben bislang fast alle Angebote von Opernhäusern abgelehnt, weil wir unsere Arbeitsweisen nicht aufgeben wollten“, erklärt sie. Doch diesmal stimmen die Bedingungen. Außerdem reizt es sie, ein anderes Publikum anzusprechen. „Der Theaterblick ist nicht der einzige gültige für unsere Arbeit“, betont sie. Und die Musikliebhaber schätzt sie als ein sehr sinnliches Publikum. Sie werden ihre Arbeitsweisen auch bei dieser ersten Koproduktion mit der Deutschen Oper beibehalten und weiterentwickeln, betont Nicola Hümpel. Den fünf Navigators, den Schauspielern Patric Schott und Annedore Kleist und den Tänzern Anna-Luise Recke, Ioannis Avakoumidis und Philipp Repmann stehen drei Sänger zur Seite: der Bariton Simon Pauly und die beiden Mezzosopranistinnen Katarina Bradic und Clémentine Margaine, die alternierend singen werden. Sänger, Schauspieler und Tänzer verkörpern unterschiedliche Facetten von Gustav Mahler und von Alma, der Geliebten, Frau und Muse. „Wie es in unserer Arbeit Tradition ist, werden wir gemeinsam forschen – dieses Forschen besteht neben der Auseinandersetzung mit Mahlers Leben darin, seine Musik in unseren Körpern heute erklingen zu lassen und zu schauen: Welche Gefühlszustände und Bilder ruft die Musik in uns wach? Welche Ausdrucksweisen entstehen? Alle Produktionen von Nico and the Navigators werden gemeinsam entwickelt – daran hat sich bis heute nichts geändert. Angeleitete Improvisation nennt Nicola Hümpel ihre Methode, die sie mittlerweile an verschiedenen Instituten, etwa der renommierten Otto Falckenberg Schule oder der August Everding Schule in München, lehrt. Oft kreisen die Gruppenimprovisationen um Themen- und Fragenkomplexe wie zum Beispiel Abschied, Freundschaft, Arbeit, Dinge oder Glauben. Beim gemeinsamen Suchprozess darf jeder losspinnen – und oftmals verfallen die Navigators in einen kreativen Rausch, in dem sie sich gegenseitig inspirieren. Für die klassisch ausgebildeten Sänger stellt die Zusammenarbeit mit Nicola Hümpel oftmals eine Herausforderung dar. Denn sie sollen nicht nur ihre Gesangspartie abliefern, sie sind in den kreativen Prozess von Anfang an mit eingebunden und werden auch darstellerisch ganz anders gefordert. Dabei ermutigt Hümpel die Sänger, ihren eigenen körperlichen Ausdruck zu finden. Sie zwängt sie nie in einen Rollentyp, ermuntert sie aber, sich von fesselnden Konventionen zu befreien. Bewährt hat es sich mittlerweile, dass Darsteller und Sänger jeden Morgen zusammen ein Körpertraining absolvieren. „Ich habe beobachtet: Wenn der Körper authentisch ist, dann ist auch die Stimme stark,“ sagt Hümpel. Mit Mahlermania erweitern Nico and the Navigators abermals ihren künstlerischen Radius. Sie nähern sich dem bedeutenden Komponisten an, indem sie sich vor allem auf sein Liedschaffen konzentrieren – und erkunden zugleich die Höhenflüge und Abgründe einer ganzen Epoche. „Was ich an Mahler spannend finde, ist seine Zerrissenheit. Er hängt an alten Werten, sieht aber schon die Moderne kommen. Die Frage stellt sich: Wieviel Selbstverrat kann man betreiben und wo muss man sich selbst treu bleiben?“ Die Lieder für Mahlermania hat Nicola Hümpel zusammen mit dem Dramaturgen Jörg Königsdorf zusammengestellt. Natürlich werden die Romantik-Idyllen des „Wunderhorns“ und die intimen „Rückert-Lieder“ erklingen. Sie beginnt den Abend jedoch mit „Abschied“ aus „Das Lied der Erde“ und schaut vom Ende her auf das Leben Mahlers zurück. „Beim ,Abschied‘ merkt man dass Mahlers Musik nicht mehr drängt, nicht mehr kämpft, nichts mehr erzwingt, sie ist geerdet und der Komponist scheint wieder bei sich selbst angekommen zu sein“, erklärt Hümpel. Doch eine biografische Abhandlung, ein Stationendrama hat sie nicht im Sinn. „Wir lassen zunächst die Kraft seiner Musik wirken und suchen dann den Grund für diese Kraft.“

Eine Produktion der Deutschen Oper Berlin in Kooperation mit NICO AND THE NAVIGATORS .

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