Menschenbilder 2.0: Genau 20 Jahre nach ihrem Hauptstadt-Debüt kehren Nico and the Navigators mit „Die Zukunft von gestern“ an die Sophiensæle zurück – den Ort ihrer Berliner Gründung.
1998 begannen Nico and the Navigators ihre Laufbahn als artists in residence in den Sophiensælen. Im Jubiläumsjahr blicken nun drei Generationen von Navigators auf zwei Jahrzehnte zurück: Lebensetappen und Zwischenziele zeigen, wie jede und jeder Einzelne den Weg durch die Welt und ins Ensemble fand. Dabei erweist sich die Kompanie als Schmelztiegel von kulturellen Erfahrungen, die von historischen Erschütterungen und privaten Einschlägen geprägt sind.
Mit abgründigem Humor präsentiert sich eine schonungslos ehrliche und empathisch verschworene KünstlerInnengruppe, die sich mit den Träumen und Ängsten von damals, der Realität von heute sowie den Perspektiven auf morgen beschäftigt. Als GeschichtsschreiberInnen und -fälscherInnen stellen sich die Navigators entscheidenden Fragen: Was muss endlich auf den Tisch kommen – oder endgültig unter den Tisch fallen? Wie macht man dem Erinnern eine Szene? Und an welchem Punkt der Gegenwart beginnt die Zukunft?
Mit ihrer Debüt-Inszenierung „Ich war auch schon einmal in Amerika“ gastierten Nico and the Navigators im Oktober 1998 erstmals in den Sophiensælen. Es folgten sieben prägende Jahre, in denen die Truppe ihre ersten Produktionen zum Triptychon „Menschenbilder“ formte. Die Theaterproduzentin und Intendantin Amelie Deuflhard schrieb 2012 anlässlich des 15-jährigen Kompanie-Bestehens: „Nico and the Navigators und die Sophiensæle sind ein Dream-Team, verbunden durch die Vision, Wege ins Offene zu gehen, getreu dem Motto: ,Stimmen Sie für den Horizont!‘.“ Diesen Kurs verfolgen Nicola Hümpel, Oliver Proske und ihr Ensemble seither unbeirrt weiter und navigieren mit ihrer Rückkehr an die Sophiensæle aus der Vergangenheit in die Zukunft.
„In eigener charakteristischer Handschrift aus Improvisation, beredter Köpersprache, starken Bildern … eine facettenreiche, auch selbstironische Auseinandersetzung mit der eigenen künstlerischen Geschichte und gleichzeitig eine über die Zeit … Der langanhaltende Applaus ist mit vielen Bravos durchsetzt. Gelungener kann der Einstieg in die mindestens nächsten 20 Jahre nicht sein.“
2018 feiert das Künstlerkollektiv Nico and the Navigators sein 20-jähriges Bestehen. Das ist ein stolzes Jubiläum für eine freie Gruppe, die ohne regelmäßige stattliche Subventionen auskommen muss. Dass sie sich davon nicht unterkriegen lässt, ist zum großen Teil der Willenskraft des Gründerpaars Nicola Hümpel und Oliver Proske zu danken, das 1998 in Dessau die seltsam heißende Formation kreierte: Nico steht für Nicola, die Navigatoren sind die Crew, mit der sie durch ihre Theaterlandschaft schifft. Noch im gleichen Jahr siedelten sie sich in Berlin an, genauer in den Sophiensälen, wo sie als artists in residence die ersten Stücke entwickelten – zu einer Zeit des Aufbruchs, die verbunden ist mit so kreativen Köpfen wie Amelie Deuflhart, Jochen Sandig und Sasha Waltz. Weitere Stationen waren das Radialsystem, die Deutsche und die Stuttgarter Oper und viele Spielstätten quer durch Europa. Zum Geburtstag sind sie zu ihren Ursprüngen in die Sophiensäle zurückgekehrt, wo kräftig gefeiert wird: mit dem brandneuen Stück Die Zukunft von gestern, inklusive einer Ausstellung und eines üppigen Rahmenprogramms. In Die Zukunft von gestern blicken die Navigators aus der heutigen Perspektive zurück auf die Anfänge der Gruppe. Die einfache, aber wirksame Kulisse von Oliver Proske besteht aus einem begehbaren Aufbau und davor vier verschiebbaren Wänden, auf die Videos, der jeweiligen Stimmung entsprechend, projiziert werden. Reminiszenzen an frühere Stücke sind eingebaut: häufig benutzte Requisiten wie Tische und Koffer, auch der Mundschutz aus Kain, wenn & aber. Das Stück ist vor allem eine Geschichte der Performer. Mit einigen der Mitstreiter/-innen der ersten Stunde hat Nicola Hümpel in der ihr eigenen charakteristischen Handschrift aus Improvisation, beredter Köpersprache, starken Bildern und Verweisen auf alltägliche Absurditäten ein szenisches Kaleidoskop entwickelt, in denen sie selbst im Mittelpunkt stehen. In kleinen Soli und Duos wird ihre Individualität hinter der Profession sichtbar: Ted Schmitz erzählt von seinen Wurzeln, Annedore Kleist, Anna-Luise Recke und Michael Shapira geben sehr Persönliches preis. Yui Kawaguchi spricht über ihre klassische Ballettausbildung in Japan und ihren Weg nach Berlin, wo sie sich zu einer starken Ausdruckstänzerin entwickelte. Sie bringt, wie auch Anna-Luise Recke, ihr expressives tänzerisches Können mit ein. Zwischendurch gibt Martin Clausen den Conférencier. Er erinnert sich an den Entstehungsprozess früherer Stücke und der Suche nach dem richtigen Ausdruck. Sehr witzig ist das, so wie auch Patric Schotts Ergänzung: Nur acht ganze Sätze durfte er bisher bei den Navigators sagen, sonst musste er stumm sein oder schreien. In Die Zukunft von gestern beweist er, dass er wunderbar sprechen kann, so wie alle anderen auch. Und selbst Philipp Kullen, Schlagzeuger der vierköpfigen Band, kommt zu Wort, denn die Musik, diesmal ein Mix aus Klassik, Jazz, Pop und Elektronik, ist unverzichtbarer Bestandteil im Gesamtwerk der Navigatoren. Die Zukunft von gestern ist eine facettenreiche, auch selbstironische Auseinandersetzung mit der eigenen künstlerischen Geschichte und gleichzeitig eine über die Zeit. Ähnlich wie sie Cindy Lauper in ihrem Hit Time after time besingt, die das gesamte Ensemble im Finale anstimmt. Der langanhaltende Applaus ist mit vielen Bravos durchsetzt. Gelungener kann der Einstieg in die mindestens nächsten 20 Jahre nicht sein.
„Mut zum Ich … Manches der Bilder ist fast schmerzhaft intensiv, oft tragisch und komisch zugleich … Ohne Angst vor großen Gefühlen, mit einer kleinen Ironie. Auch wenn Jugendjargon verpönt ist – hier soll es einem erlaubt sein: Geiles Theater!“
Berlin - Doch, Oliver Proske ist ziemlich aufgeregt. Das gibt der Bühnenbildner ungefragt zu. Eben hat er der Truppe das obligatorische Toi, toi, toi gewünscht. Und Nicola Hümpel, die wortgewandte Chefin, bringt nicht viel mehr als ein „Hallo“ heraus. Es ist Dienstagabend, Viertel vor Acht. Gleich wird im Festsaal der ehrwürdig patinierten Sophien-Säle in Berlin-Mitte die Premiere ihres Stückes „Die Zukunft von gestern“ beginnen. Damit feiern Nico and the Navigators den 20. Jahrestag ihrer Gründung - an jenem Ort, wo 1999 ihr Aufstieg begann. „Man kann sich das auch einfacher machen“, sagt Proske: „Eine Wiederaufnahme zum Fest und fertig. Aber das Einfache liegt uns eben nicht.“ Alles ist möglich Stimmt. Und das Unmögliche war immer gerade das Richtige. Als Nicola Hümpel (Nico) und Oliver Proske ihr eigenwilliges Theater am Bauhaus in Dessau kreierten und vorstellten, haben viele abgewinkt: Das ist großartig gedacht, aber es wird nicht funktionieren. Niemals! Nico, deren kreative Sturheit und theatrale Fantasie Berge versetzen können, und ihr Mann für die genialen technischen Lösungen haben das einfach überhört. Oder sich gesagt: Nun gerade! Hier fallen einem Sätze ein, die dem kleinen Katechismus der sozialen Marktwirtschaft entlehnt sein könnten: Sie haben sich nie aufgegeben. Und immer an sich geglaubt. Sie haben hart gearbeitet und weder ihre international besetzte Compagnie noch sich selbst geschont. Und der Erfolg gibt ihnen Recht. Nico and the Navigators sind seit Jahren weltweit gefragt. Mehr als 200 Gastspiele in einem halben Hundert Städten stehen zu Buche. Dieser Erfolg gründet auf unbändigem Willen und künstlerischer Originalität. Die Produktionen vereinen Tanz, Sprechtheater, Pantomime und Musik zu einem lebendigen, rhythmischen Ganzen - mit dem Mut zum Ich bei jedem der Akteure. Und immer bis an die Grenze des Möglichen gehend. Tragik und Komik So ist es auch in der jüngsten Premiere gewesen. In 90 Minuten erzählen die Navigators von ihrem Herkommen, von Kindheit, Familie und Berufswegen. Manches der Bilder ist fast schmerzhaft intensiv, oft tragisch und komisch zugleich. Soli und Szenen für zwei oder mehr Spieler folgen in komponiertem Wechsel. „Time after Time“, den Gänsehaut-Heuler von Cyndi Lauper, gibt es fast zum Schluss. Ohne Angst vor großen Gefühlen, mit einer kleinen Ironie. Auch wenn Jugendjargon verpönt ist - hier soll er einmal erlaubt sein: Geiles Theater!
„Das ist das tatsächlich Berückende an dieser Produktion, dass sie in Erinnerungen schwelgt und das Erinnern selbst zugleich zu ihrem Thema macht. Das Verhältnis zur Vergangenheit, zur eigenen Familiengeschichte und zum künstlerischen Werdegang … Es ist ein stiller, zarter Jubiläumsabend, nachdenklich und offen …“
Zwei Jahrzehnte haben die Mitglieder von „Nico and the Navigators“ performed, getourt und Preise gewonnen. In der Jubliäumsshow lassen die Performerinnen ihre Eindrücke auf ganz persönliche Art und Weise Revue passieren. Für Kritiker André Mumot ein großer Abend. Sie haben es sich verdient, sich selbst zu feiern: Seit zwanzig Jahren machen Nico and the Navigators nun Theater, verschränken Performances mit Tanz und Musiktheater, gewinnen Preise, touren durch die Welt. Jetzt ist also Zeit für eine Rückschau, für die große Jubiläumsveranstaltung, die dort ihre Premiere erlebt, wo das Ensemble 1999 als artists in residence die ersten großen Erfolge erzielte, in den Berliner Sophiensälen. Melancholischer Diskurs über die eigene Herkunft In „Die Zukunft von gestern“ versammelt Regisseurin Nicola Hümpel sieben Mitstreiterinnen und Mitstreiter vor einem Bühnenbild von Oliver Proske, um einen intimen wie melancholischen Diskurs über die eigene Herkunft zu beginnen, die familiäre wie die künstlerische. Das ist das tatsächlich Berückende an dieser Produktion, dass sie in Erinnerungen schwelgt und das Erinnern selbst zugleich zu ihrem Thema macht. Das Verhältnis zur Vergangenheit, zur eigenen Familiengeschichte und zum künstlerischen Werdegang. Diese Reflexionen werden nicht nur ausführlich angesprochen, sie werden von den Tänzerinnen Yui Kawaguchi und Anna Luise Recke in hinreißende Bewegungen umgesetzt, in einen Katalog ihrer unterschiedlichen Ausdrucksformen, ihrer Rollen und Choreographien, die sie kommentierend und selbstironisch kurz aufflackern lassen. Eine Revue des „Revue-passieren-lassens“ Gründungsmitglied Patric Schott lässt in einer hinreißenden Nummer sämtliche Sätze Revue passieren, die er in 19 Inszenierungen von sich geben durfte, und Martin Clausen erklärt, ganz nebenbei, was sie früher niemals in einer „Nico“-Performance geduldet hätten: ein Lied wie „Time after Time“ von Cindy Lauper zum Beispiel, das Anna-Luise Recke zusammen mit dem israelischen Tänzer Michael Shapira zu einem getanzten, tragikomischen Liebesduett macht. Es geht um mehr als nur um das Persönliche an diesem Abend. Es geht um Migrationen in der Familiengeschichte, um europäische Juden, die nach Israel emigriert sind, um Nazi- und Nachkriegsvergangenheit in deutschen Familien, um den amerikanischen Melting-Pot, von dem Sänger Ted Schmitz berichtet, indem er die Verflechtungen seiner eigenen Familienabstammung aufzählt. Ein schwereloser Jubiläumsabend Das alles wird als Revue aus Glanznummern präsentiert, tänzerisch vrituos und gekonnt von drei Musikern live begleitet, fühlt sich bisweilen geradezu schwerelos an und immer angenehm unaufdringlich. Es ist ein stiller, zarter Jubiläumsabend, nachdenklich und offen, ein Abend, der sich vielleicht allzu sehr vor inhaltlichen Zuspitzungen und Vertiefungen fürchtet und ganz dem hinreißenden Charisma seiner Protagonisten vertraut. Aber sie haben es wahrlich verdient, dieses szenische Geburtstagsgeschenk an sich selbst.
„Aus einer Niederlage entsteht ein Glücksmoment … bildstark, dadaistisch, träumerisch … Das Spiel mit Sinn und Unsinn zeichnet die vielfach preisgekrönte Truppe aus.“
Etwas eben noch Heldenhaftes kippt ins Kleinmütige. Aus einer Niederlage entsteht ein Glücksmoment. Was Nico and the Navigators in langen Improvisationsprozessen erarbeiten, wirkt anekdotisch, bildstark, dadaistisch, träumerisch. Gemeinsam mit Oliver Proske gründete Nicola Hümpel 1998 Nico and the Navigators. "Wir legen gern den Finger in die Wunden der Zeit. Uns interessiert die Keimzelle der Gewalt, der Liebe, des Hasses. Dabei ist aber nicht deren große erklärende Komponente von Interesse, sondern eher wo es im ganz Kleinen beginnt. Dadurch kann es übergeordnet politisch werden oder universalthematisch etwas fassen." Navigation durch die "allgemeine Alltagsschizophrenie" So beschreibt Nicola Hümpel, künstlerische Leiterin, das Rüstzeug, mit dem ihre Performer, Sänger und Tänzer durch, so sagt sie, die "allgemeine Alltagsschizophrenie" navigieren - als fragile wie wahrhaftige Wiedergänger ihres Publikums. Wie die Frau mit der Handtasche in der Jubiläumsproduktion "Die Zukunft von gestern": Anhand ihrer Handtasche werde der Frau ihre Kindheit bewusst. "Wir erfahren eine sehr berührende Geschichte, wie sie in sehr jungen Jahren im Krankenhaus war und Sorge hatte, dass ihre Mutter sie verlässt. Diese Handtasche war immer das haltende Element in ihrem Leben. Ängste, Alibis und Irrwege stehen im Mittelpunkt Das Spiel mit Sinn und Unsinn zeichnet die vielfach preisgekrönte Truppe aus. Ängste, Alibis und Irrwege durchziehen die mehr als 20 Produktionen, die seit 1998 entstanden sind. Längst machen Nico und ihre wechselnden Navigatoren auch ganz großes Musiktheater, wie beispielsweise an der Deutschen Oper und im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Jetzt besinnen sie sich auf ihre Ursprünge zurück. "In dieser aktuellen Produktion beschäftigen wir uns sowohl mit den eigenen Biografien als auch mit der Anhäufung der Biografien, die unserer eigenen zu Grunde liegen – sprich unserer Vorfahren und Ahnen. Und wie sich diese ganzen Erfahrungen, das Schicksal, Zufälle übereinanderschichten und was wir alles an Gepäck mitnehmen", erklärt Nicola Hümpel. Biografische Brüche Fremdheits- und Heimatgefühle haben sie schon in einem vielschichtigen Schubert-Liederabend verdichtet. Zum Jubiläum werden jetzt die eigenen biografischen Brüche zum Material wie bei der japanischen Tänzerin Yui Kawaguchi im Krisenjahr 2011. "Es gab das Fukushima-Drama. Ihr Vater starb, sie brach sich die Nase in den Proben und dabei hat sie einen ihrer schönsten Tänze entwickelt", erzählt die künstlerische Leiterin. "Dann habe ich zu ihr gesagt, wie es sein kann, dass das in dem Jahr entstanden ist. Das ist mir nie so richtig klar gewesen. Darauf sagte sie: 'Weil das der Ort war, an dem ich die ganze Hoffnung, die Kraft und den Willen zurückgeholt habe. Und es war mir wichtig, wieder aufzustehen'."
„Mit der locker-melancholischen Jubiläums-Show ‚Die Zukunft von gestern‘ feiert sich das Nico-and-the-Navigators-Ensemble selbst. Seit 20 Jahren gehört die Truppe zur postdramatischen Off-Theater-Szene, die den aktuellen politischen Wandel an den Stadttheatern prägt.“
Mit der locker-melancholischen Jubiläums-Show „Die Zukunft von gestern“ feiert sich das Nico-and-the-Navigators-Ensemble selbst. Seit 20 Jahren gehört die Truppe zur postdramatischen Off-Theater-Szene, die den aktuellen politischen Wandel an den Stadttheatern prägt. Der Performer Ted Schmitz steht vor einer breiten Leinwand mit einem schwarz-weißen Videowimmelbild: Lauter Menschen, die sich auf einer Rasenfläche versammelt haben, ein wenig Kommen und Gehen. Derweil erzählt der in den USA geborene Sänger von seiner Familiengeschichte. Wie geht das zusammen, das Private und die Masse? Plötzlich kommen die anderen sechs Performer auf die Bühne, um den Gegensatz zwischen dem Einzelnem mit seiner individuellen Erinnerung und der formlosen Masse des Videobilds im Hintergrund musikalisch zu versöhnen: Mit einer Hymne, einer gewissen Vorstellung von Amerikanität. Aalen in der eigenen Performance-Geschichte Reihum darf eine jede und ein jeder aus dem Nico-and-the-Navigators-Ensemble eine Geschichte aus der Kindheit erzählen, oder die Geschichte des Eintritts in das Ensemble. So sagt Patric Schott, er habe zwar in fast allen der über zwanzig Produktionen der Truppe mitgewirkt, aber all die Zeit höchstens acht Sätze sagen dürfen, habe aber oft nackt auftreten müssen. Einer der vielen Lacher der Geburtstagsaufführung, die sich locker-melancholisch in der eigenen Geschichte aalt und dabei die eine oder andere der selbstauferlegten Performance-Regeln vorführt: „Mit einer messerscharfen Schnitttechnik werden wir jetzt in diesen Körper eine völlig widersprüchliche Ausdruckebene einziehen: Mimik eines beleidigten, vorwurfsvollen Maulwurfes, und dann ganz widersprüchlich dazu eine Geste der oberen Extremitäten.“ Im Allerlei der szenischen Einfälle sind aber auch tänzerische Soli von Yui Kawaguchi und Anna-Luise Recke zu erleben, zu einer Life-Band-Musikbegleitung. Vom Barock zum Pop-Mainstream reicht das Spektrum, bis hin zu Cyndi Laupers „Time after Time“. Die Videoleinwand zeigt jetzt auch abstraktere Bilder, die Nahaufnahme einer geschliffenen Metalloberfläche, oder das immerfort aufbrodelnde Schraubenwasser am Heck eines Schiffes. Ach ja, man fährt und Zeit vergeht. Kuriose Randlagen in melancholischer Bildersprache In den zwanzig Jahren ihrer Existenz hat die Gruppe um Regisseurin Nicola Hümpel und Bühnenbildtüftler Oliver Proske in milder melancholischer Bildersprache Alltagsgegenstände zu bizarrem Eigenleben verholfen und die Menschen in kuriose Randlagen manövriert. Recht schnell haben sie den Schulterschluss zum Musiktheater gesucht. Nur das unterscheidet sie von all den anderen Truppen der postdramatischen Off-Theaterszene, die allesamt seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gegründet wurden. She She Pop feiert derzeit ihr 25-jähriges Bestehen und damit 25 Jahre der Recherche über Formen der weiblichen Selbstinszenierung, Shohcase beat le Mot wurde 1997 gegründet, Rimini-Protokoll entstand im Jahre 2000. Etwas jünger ist Turbo Pascal. Die allermeisten sind Kinder des Gießener Studienganges Angewandte Theaterwissenschaften, wo nicht die traditionellen Methoden der mimetischen Kunst zur Darstellung von vorgefundener Dramatik gelehrt werden. Sondern eigene Stoffentwicklung, Arbeit an biografischem Material, performative Formate, dokumentarisches Theater. All das wurde möglich durch ein Netzwerk von Spielstätten wie dem Hamburger Kampnagel, dem Berliner Hebbel am Ufer, den Sophiensälen, wo Nico and the Navigators als Artists in Residence begannen. Und es wurde möglich durch eine wenn auch zu spärliche, kontinuierliche Förderung der freien Szene. Befeuert von einigen Erfolgen der freien Gruppen, die sich zum Beispiel auch in Einladungen zum Berliner Theatertreffen zeigten, haben klassische Theaterhäuser die Zusammenarbeit mit der freien Szene gesucht. Turbo Pascal dockte vorübergehend am Deutschen Theater, Rimini-Protokoll am Hamburger Schauspielhaus an, und das sind nur zwei Beispiele. Nachhaltiger als die sporadische Zusammenarbeit von einer längst erwachsen gewordenen freien Szene mit dem hoch subventionierten Stadttheater ist aber der politische und ästhetische Einfluss ihrer Postdramatik. Ihre Probenräume wurden zu Experimentierfeldern für einen Darsteller, der nicht mehr im Dienste der Vorstellung hinter der Maske seiner Theaterfigur verborgen bleibt, sondern sich selbst in den Vordergrund stellt. In den Arbeiten der letzten Jahre haben unter anderen die früh verstorbenen Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff auf den großen Stadttheaterbühnen ihre Schauspieler immer auch zu Performern gemacht, das Spannungsfeld beleuchtet zwischen Zeichen und Bedeutung, Spieler und Figur. Experimente der freien Szene und der poltische Wandel des Theaters Die beliebten, großen Akteure des heutigen Theaters sind allesamt gleichermaßen große Schauspieler und aufregende Performer. Das Theater hat eine größere Komplexität bekommen, das Schauen hat sich verändert. Krise der Empathie, Krise der Stellvertretung, die Glaubwürdigkeitslücke des klassischen Theaters, all diese Phänomene eines schleichenden Kulturwandels hat die freie Szene ja nicht erfunden; sie hat nur schneller als das klassische Theater darauf reagiert. Deshalb experimentiert der Dokumentarfilmer Andres Veiel am Deutschen Theater in Berlin mit Formen dokumentarischer Dramatik, und unter anderem Yael Ronen mit biografischem Material in ihren Arbeiten am Gorki-Theater. Deshalb kann ein frei produzierender Dokumentar-Theatermensch wie Milo Rau in Belgien ein ganzes Stadttheater übernehmen. Daran, wie Geschichten beglaubigt werden, und wie sie für die Zuschauer in der Darstellung verbindlich erzählt werden, und wie das Publikum an diesem Vorgang beteiligt wird, all das ist derzeit einem politischen Wandel unterworfen. Und die freie Szene hat mit all dem in den letzten Jahren experimentiert.
„Das Melancholie-Vollbad fällt für einen zwanzigsten Geburtstag jedenfalls eine Spur zu heiß aus … Aber vielleicht gehört auch das bloß zu den Eigenarten dieser spezifischen Idee von Theater: Dass es nie wirklich jünger sein kann als die Menschen, die es machen. Doch das muss ja nichts heißen.“
Berlin, 2. Oktober 2018. Sie kommen in die Jahre, die Heldinnen und Helden der Berliner Freien Szene. Hatten am Wochenende noch die Performer von She She Pop ihr 25-jähriges Bestehen im HAU mit einer mehrteiligen Riesensause begangen, sind es nun Nicola Hümpel und Oliver Proske, die mit ihren "Navigators" offiziell das Teenageralter überwunden haben. Zwanzig Jahre nämlich ist es auch schon wieder her, dass Nico and the Navigators als artists in residence mit ihrem neuartigen Mischwesen aus Tanz-, Musik und Performancetheater an den Berliner Sophiensälen anheuerten, um berühmt zu werden. Ein Grund zum Feiern. Ewig bewegte Landschaften Und so kehrt das Ensemble – um einige melierte Schläfen weiser – zum Geburtstag an den Ort der ersten Erfolge zurück. Soufflé-leicht und zuckersüß ist dieser Abend geworden, der die Rückschau schon im Titel trägt: "Die Zukunft von gestern. Menschenbilder 2.0". Denn "Menschenbilder" hieß bereits der Zyklus an den Sophiensälen, mit dem die Kompanie zwischen 1999 und 2005 in den Fokus und bis auf die Longlist des Berliner Theatertreffens rückte. "Tanz doch mal bei den Navigators vor", erinnert sich auf der Bühne die Tänzerin Anna-Luise Recke, habe man ihr damals geraten. Ein Satz von so irrer Selbstverständlichkeit, dass er fast eine ganze Epoche wieder auferstehen lassen kann. Berlin war groß und grau und die Kunst lauerte überall. Heute ist Berlin bekanntlich vor allem groß und noch größer, weshalb die Navigators geburtstagsgerecht auch lieber vom Gestern erzählen. Drei transparent-mobile Videoscreens hat Oliver Proske dafür ins Schummerlicht des hohen Raums gesetzt. Auf ihnen zerfließt die Zeit: Landschaften, Häuserfassaden und Flüsse ziehen dahin, ewig bewegt wie in einer besonders geschmeidigen Installation von Bill Viola. Dazwischen und darüber tanzen, sprechen und singen die Performerinnen, rechts spielt die Musik. Natürlich ist viel Meta-Witz dabei, dankend goutiert von den mitergrauten Fans im Publikum. Zuckersüße Selbstbehauptungsgeschichten Denn damals, als man anfing, durfte man noch nicht kopfwackelnd von der Bühne abtreten, war der "neutrale Stand" die Grundpose allen Schauspiels, wie Martin Clausen zu Beginn an seinem Kollegen Patric Schott demonstriert. Jener erzählt zwischendurch, wie er über die Jahre zwar in den allermeisten Stücken der Truppe auftrat – aber insgesamt nur acht Sätze sprechen durfte. Dafür war er sehr oft nackt. Selbstbehauptungsgeschichten dieser Art sind es, die der Nummernfolge ihren humanistischen Kitt schenken: Zum Theater gekommen, die Liebe gefunden. Und so ziehen mit den Videolandschaften auch die Performance-Standards der letzten zwanzig (und mehr) Jahre vorbei. Das Private wird Theater, das Theater privat. Ein prosaischer Spannholztisch verwandelt sich während der auch textlich berührenden Auftritte von Annedore Kleist in die schwere Eichentafel der Weihnachtsessen ihrer Kindheit, bevor Schlagzeuger Philipp Kullen und Michael Shapira das Möbel stark impro-theatral wegtrommeln. Später verknoten Shapira und Recke virtuos die Körper und japsen "Time after Time". Dunkler tönende Zeit Überhaupt, die Zeit: Sie tönt dunkler im letzten Drittel des Geburtstags, wenn auch der Tod sanft über die Schultern dieser freundlichen Vierziger lugt. "Zum Sterben und zu meiner Ruh...", deklamiert Annedore Kleist aus der Bach-Arie "Bist du bei mir". Yui Kawaguchi singt ein japanisches Lied auf die Melodie des (eigentlich völlig unmöglich gewordenen) Pachelbel-Kanons. Das war immer schon so eine Sache bei den "Navigators", dieser gewisse Hang zu den allfälligen Classics aus dem 5-Euro-Sampler-Regal. Das Melancholie-Vollbad fällt für einen zwanzigsten Geburtstag jedenfalls eine Spur zu heiß aus. Aber vielleicht gehört auch das bloß zu den Eigenarten dieser spezifischen Idee von Theater: Dass es nie wirklich jünger sein kann als die Menschen, die es machen. Doch das muss ja nichts heißen. Happy Birthday.
„Die Navigators haben es sich in ihrer gepflegten Kauzigkeit gemütlich gemacht. Dennoch bleiben sie mit ihrer professionellen Interdisziplinarität, ihrer Arbeit am Gesamtkunstwerk zwischen Jaques Tati, Bach, Tiergarten und Cindy Lauper etwas sehr Besonderes. Und sei es nur, weil ihnen der übliche Theorieanschluss der Performancekultur abgeht.“
Was waren das für Zeiten, die 90er in Berlin!, ruft Amelie Deuflhard begeistert ins Foyer der Sophiensäle. Die ehemalige Chefin sitzt hoch oben auf einem der verwunschen futuristischen Bauklötze, die der Bühnenbildner Oliver Proske seiner Kompanie Nico and the Navigators seit zwanzig Jahren in allen möglichen Varianten zum Spielen gebastelt hat. Und ja, ein bisschen macht das pastellfarbene Multiding auch jetzt das Fantastische jener Zeit noch einmal plastisch. „Die Stadt war offen, neugierig, wild,“ schwärmt Deuflhard weiter, „überall wurde neu gegründet!“ und fast meinte man es greifen zu können, wie sie Berlin als „völlig andere Stadt“ beschrieb. Das Performancetheater war blutjung. Kein Wunder, dass die zerknautschten Gestalten der ersten Navigators Martin Clausen und Patric Schott damals einschlugen wie Kometen. Sie tanzten mit Staubsaugern Pas de deux, verbanden Körper und Objekte in innige Bruchpilotenehen und aus traumwandlerischen Slapsticks wurde eine ganze Menschheitsbilderwelt. Tati, Bach und Cindy Lauper Lange her, denkt man nun, schaut man dem neuen Stück „Die Zukunft von gestern“ zu, mit dem die Regisseurin Nicola Hümpel den 20. Gründungstag ihrer Nico-Truppe feiert. Denn das melancholisch dahin plätschernde Tanz-Musik-Erinnerungspotpourri vor Videowand kreist nur um seinen eigene malerische Nettigkeit. Ein Tisch wird trommelnd zum Schicksalskörper, eine Tasche zur Frauenmanie. Die Navigators haben es sich in ihrer gepflegten Kauzigkeit gemütlich gemacht. Dennoch bleiben sie mit ihrer professionellen Interdisziplinarität, ihrer Arbeit am Gesamtkunstwerk zwischen Jaques Tati, Bach, Tiergarten und Cindy Lauper etwas sehr Besonderes. Und sei es nur, weil ihnen der übliche Theorieanschluss der Peformancekultur abgeht. Emotionale, berührende Momente Etwas, das man ihren älteren Stiefgeschwistern She She Pop nicht vorwerfen kann, die sich bereits fünf Jahre früher in der Theorieschmiede des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft die Köpfe heißredeten, zum „Kollektiv!“ zusammenfanden und nun zeitgleich im HAU ihren 25. Geburtstag feiern. Anders als die Navigators ist She She Pop ein Theorietheatertier wie es im Buch der Postdramatik steht. Und doch schaffen sie in ihren extra spröden, diskursiven Spielanordnungen emotionale, ja berührende Momente, die unmittelbar verstehen lassen, wie man durch Kommunikation zu einem besseren Menschen werden kann. Mag naiv klingen, ist aber besonders schwer und wurde in der feierlichen Wiederaufnahme ihres Erfolgsstücks „Testament“ gerade wieder verblüffend deutlich. Generationen- und Kunststreit „Das ist jetzt gar nicht mehr lustig, was hier passiert!“, empört sich darin ein älterer Herr. „So könnt ihr nicht mit uns umgehen!“ Alle Altersschwächen, all das durch und durch Private an die Öffentlichkeit zu zerren – „das ist doch kein Theater!“ Theo heißt er und geht auf die Achtzig zu, neben ihm thronen zwei weitere Herren in Sesseln und nicken. Die drei sind die Väter der Performerinnen Ilia Papatheodoro, Mieke Matzke und Fanni Halmburger, die in ihren Vätern den „König Lear“ suchen. Soeben haben alle sechs noch den Shakespeare-Text von der Wandprojektion abgelesen, doch alle paar Verse lang griffen die gestrengen Töchter ein und versuchten, durch gnadenlose Fragen und Kommentare ihre Väter aus der Königsrolle in die Erfahrungswelt des eigenen Alterns zu schubsen. Theorietheatertier She She Pop Bis den Alten die Kragen platzen: was sind wir denn hier, „Lear“ oder nur wir selbst? Eine Frage, die mitten ins schillernde Herz des She-She-Pop-Theaters führt. Es ist daher eine ganz wunderbare Idee, neben einer Buchpräsentation und einer „Gala“ am kommenden Samstag das Vierteljahrhundert mit der Wiederaufführung des emblematischen Werks zu feiern. Acht Jahre ist „Testament“ nun alt und hat von seiner einstigen Frische nichts eingebüßt: ein spielerischer Essay über Wert und Wandlung des Lebens und des Theaters selbst. Denn der Generationen- und Kunststreit, den sie darin austragen, ist so echt wie inszeniert. Er ist Ausschnitt der zähen, ungelösten Auseinandersetzung zwischen den Performerinnen und ihren Vätern, die sie während der Proben aufschrieben und nun zu einem weiteren Thema des Abends machen. Ein Macht- und Selbstermächtigungsspiel Und während sie darüber streiten, was Zumutung, was Herausforderung ist, was „Spielen“, was „Darbieten“, vollziehen die Väter ganz nebenbei beides: Sie suchen, was an Lear in ihnen steckt und „spielen“, was von ihnen im “Lear“ sein könnte. Treten She She Pop auf die Bühne, ist erst einmal nichts mehr Bühne, und doch alles. Die geliebte Distanz zwischen Zuschauern und Performern ist ausgeknipst und die Freiheit der Kunst durch den direkten Kontakt mit der Nicht-Kunst aus den Angeln gehoben. Ein Macht- und Selbstermächtigungsspiel also, das zwischen literarischer, persönlicher und politischer Ebene hin und her springt und die Prädikate „echt“, „unecht“ bedeutungslos macht. Zwischen Sein und Inszenierung Eines ist sicher: Bei dem feministischen Septett bleibt nichts undurchdacht – Brecht ist ihr erklärter Lehrmeister. Ein bisschen verwunderlich daher, dass erst jetzt das erste Buch von und zu der Truppe erschienen ist mit dem schönen Titel „Sich selbst fremd werden“. Drei Vorlesungen versammelt es, die Lisa Lucassen, Ilia Papatheodoro und Sebastian Bark im Frühjahr 2018 an der Saarbrücker Uni hielten. Angesichts nach wie vor verbreiteter Missverständnisse über den speziellen „Realismus“ der Truppe, dem es keineswegs um naive Authentizität geht, sondern um das Machtspiel zwischen Selbstsein und Selbstinszenierung, sind die Texte hilfreich – auch wenn sich vieles in den Beiträgen wiederholt. Zwischen „heikel“, „riskant“ und „peinlich“ siedeln She She Pop sich selbst an. Wie könnte der Jubiläumswunsch da anders lauten als „Shame Shame Shame!“
Eine Produktion von Nico and the Navigators in Koproduktion mit Kampnagel Hamburg und in Kooperation mit SOPHIENSÆLE. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds, der Senatsverwaltung für Kultur und Europa - Spartenoffene Förderung und der Rusch-Stiftung. Medienpartner: taz.die tagezeitung
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