Musiktheater zwischen Andacht und Begehren. Anlässlich des 350. Todestages von Heinrich Schütz widmen sich NICO AND THE NAVIGATORS dem Werk des frühbarocken Komponisten.
Zwischen Seiten und Zeiten
Die ideale Bibliothek ist unendlich: Sie versammelt alle denkbaren Kombinationen jener Zeichen, mit denen sich Menschen verständigen – also jede mögliche Mitteilung in gebräuchlichen, vergessenen oder bislang unerhörten Sprachen, die vollständige Kollektion der Liebesbriefe und Hassbotschaften, Kriegserklärungen und Friedensverträge, Dramen, Enzyklopädien, Epen, Essays, Gedichte und Romane der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft … und vor allem Unleserliches, Unbrauchbares, Undenkbares. Es gleicht einem ungeheuren Zufall, in einem der Bücher einen sinnvollen Satz, geschweige denn ein lesbares Kapitel zu entdecken. Und doch ist das alles irgendwo vorhanden – sogar der Katalog, der sämtliche Bände der Bücherei in richtiger Reihenfolge verzeichnet. Und der wissenschaftliche Nachweis, dass dieses Register eine Fälschung ist. Und so weiter …
Irgendwo in den zahllosen Regalen, zwischen der Bibel und der kompletten Passwort-Sammlung für alle Atomwaffen dieser Welt, müsste auch das Libretto von „Fleisch und Geist“ zu finden sein – zumindest in der „Bibliothek von Babel“, wie sie der Dichter Jorge Luis Borges 1941 beschrieben hat. Die Quellen, die der Inszenierung von NICO AND THE NAVIGATORS zu Grunde liegen, sind von eifrigen Lesern jedenfalls bereits vor langer Zeit gefunden worden – Texte aus dem Neuen Testament, die sich mit der Unvereinbarkeit von Fleisch und Geist als Konstanten des menschlichen Daseins beschäftigen: „Denn das Fleisch gelüstet gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; und diese widerstreben einander“, heißt es im Galaterbrief des Apostels Paulus. Und im Evangelium des Johannes findet sich ein eindeutiges Urteil: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt gar nichts.“ Wenn man mit unvorstellbarem Glück jene Sammlung entdeckt hat, die vor langer Zeit von findigen Bibliothekaren zusammengetragen wurde (oder schon immer in einem der Regale gestanden hat?), versteht man auch die daraus gewonnenen Stücke in der Musikalien-Abteilung besser – etwa das „Anima mea liquefacta est“, das im Werkverzeichnis des Komponisten Heinrich Schütz (Welches Regal? Welches Fach?) unter der Nummer 236 zu finden ist, oder das „Magnificat anima mea Dominum“ mit der Ziffer 468. Die Texte aus dem Hohelied Salomo und aus dem Lukasevangelium scheinen in erotischer und religiöser Ekstase kaum zwischen zwei Buchdeckeln vereinbar. Und doch sind das Erhebende, Himmlische des Geistes und das Zerfließende, Irdische des Fleisches zwei Seiten derselben, menschlichen Prägung. Dass man diese Dialektik nur dann erkennen kann, wenn man die passenden theologischen Kommentare – und in unseren geistfernen Zeiten zudem ein brauchbares Wörterbuch – griffbereit hat, versteht sich von selbst. Aber vielleicht fragt man ja auch einfach einen jener Wanderer, die man im Labyrinth der Bücher zufällig trifft – einen Eiferer, der zur Vernichtung des unnützen Wissens aufruft. Einen Märtyrer, der unter der Last seiner gesammelten Schätze zusammenbricht. Einen Liebenden, der mit fremden Worten für die Unerreichbare schwärmt. Oder einen Zweifler, der wider besseres Wissen auf Erkenntnis hofft …Im Werkverzeichnis des Berliner Musiktheater-Ensembles um die Regisseurin Nicola Hümpel und den Szenografen Oliver Proske kommt „Fleisch und Geist“ eine besondere Stellung zu: Nach mehreren Projekten, in denen die Navigators akribisch die digitalen Möglichkeiten einer von Objektiven fokussierten oder durch Brillen erweiterten Wirklichkeit untersuchten, begegnen sie dem Jubilar Heinrich Schütz und seinen Zeitgenossen nun wieder in einem ausschließlich analogen Raum. Statt programmierbarer Kameras und Augmented-Reality-Apparaten gibt es Bücherstapel und Bilder – und Trouvaillen aus jenen Winkeln der Bibliothek, in denen eine universale Sprache ohne Worte hinterlegt ist. Dass dieser konsequente Schritt zurück nach vorn beglückende Energien und Phantasien freisetzt, hat sich auf dem Weg zum Stück immer wieder gezeigt: Da werden barocke Halskrausen zur würgenden Garrotte oder zum neckischen Tutu, da wecken kleine Wickelpuppen Erinnerungen an die Seelenkinder aus Klöstern oder an die Legende des heiligen Christophorus, da entpuppen sich horizontal geschichtete Stufen als himmelwärts weisende Kirchturmspitzen oder Kanzeln mit sündhafter Kehrseite … und jede spielerische Zweckentfremdung des Bühnenbildes stiftet überraschend neuen Sinn. In einer Gegenwart, die sich selbst in Nullen und Einsen zerlegt, um den Beschränkungen der Endlichkeit zu entkommen, geht „Fleisch und Geist“ auf die Suche nach eben diesen Grenzen – und findet bei Alten Meistern neue Anlässe für Andacht und Begehren.
Dabei wandelt das Ensemble auf einem schmalen Grat zwischen Frömmigkeit und Blasphemie: Der gleiche Wein, der sich im Abendmahl zum Blut des Erlösers wandelt, kann in der Orgie zu berauschter Enthemmung führen. „Hütet euch“, mahnt Schütz mit Worten aus dem Lukasevangelium, „dass eure Herzen nicht beschweret werden mit Fressen und Saufen.“ In Maßen aber sei der Genuss gestattet, wie es in den „Symphoniae Sacrae“ heißt: „Iss dein Brot mit Freuden und trinke deinen Wein mit gutem Muth.“ Dass die Quelle für dieses Gebot das alttestamentliche Buch Prediger – und dessen Autor derselbe König Salomo ist, der mit seinem Hohelied für die freizügigsten Passagen der Bibel verantwortlich zeichnet, beglaubigt das Prinzip der Collage: Auch bei Schütz finden sich salomonische Texte wie das „Nachdem ich lag in meinem öden Bette“, das weniger von existenzieller Sinnsuche als vielmehr von körperlichem Begehren erzählt. Selbst die Taube, die in „Veni de Libano“ von den Bergen herabsteigen soll, hat mit dem gefiederten Sinnbild des Heiligen Geistes nichts gemein. Sie ist vielmehr die Freundin, deren Schönheit und Unschuld den Flehenden bezaubert.
Dass die Zerstörung der Bücher, das Verwehen der Fetzen von Glauben und Wissen nicht allein die Lebenszeit des „Sagittarius“ im Dreißigjährigen Krieg meinen kann, darf man auch angesichts der Vergegenwärtigung seiner Musik voraussetzen. Ein Trost aber bleibt: In der „Bibliothek von Babel“ und in den unendlichen Weiten der binären Codes sind selbstverständlich auch jene Kopien vorhanden, die schlimmstenfalls ein Komma von den verlorenen Schätzen abweichen …
Andreas Hillger, Dramaturgie
„Fleisch und Geist“ ist eine gleichermaßen freche wie tiefsinnige, amüsante und dabei dennoch oft auch traurige Befragung nicht nur des Komponisten allein, sondern auch seiner und unserer Zeit. Schütz, …, Claudio Monteverdi & Co werden hier in einer surreal entgrenzten, staunenswert phantasievollen und gelegentlich befremdlichen Collage aufgefahren.
Griffiger wirkt da jene Annäherung, mit der die Berliner Kompanie „Nico and the Navigators“ aktuell durch die Lande zieht (am kommenden Freitag und Samstag noch zweimal im Rahmen der Kasseler Musiktage): „Fleisch und Geist“ ist eine gleichermaßen freche wie tiefsinnige, amüsante und dabei dennoch oft auch traurige Befragung nicht nur des Komponisten allein, sondern auch seiner und unserer Zeit. Schütz, diesmal vor allem mit seinen Hohelied-Vertonungen präsent, Claudio Monteverdi & Co werden hier in einer surreal entgrenzten, staunenswert phantasievollen und gelegentlich befremdlichen Collage (Konzept und Regie: Nicola Hümpel, Bühne: Oliver Proske) aufgefahren.
Frühbarocker Originalklang schwappt unversehens in Richtung Breakdance, moderne Beats hinterlegen Madrigale und Passacaglien, während eine Wand mächtiger Folianten im Laufe der quirligen Aktionen lustvoll konsumiert, gefleddert und schließlich zerlegt wird: ein Spiel der Klang- wie Bildmetaphern und Allegorien, das sich als performatives Gesamtkunstwerk ausspinnt, virtuos ohne Perfektionsanspruch, offen bleibend für Improvisatorisches und von einer Vitalität, die – darin wieder ganz nahe bei der musikalischen Zentralperson dieser frühen Novembertage – auch Trauer und Erschütterung integrieren kann.
Der Plan, die Dinge gemeinsam zu durchdringen und das Publikum zu verzaubern, ist einmal mehr aufgegangen, wie immer getragen von hoher Meisterschaft und bedingungslosem Einsatz.
Die Koproduktion … ist eine ebenso würdige wie heitere Ehrung für Schütz geworden: Virtuos in Musik, Tanz, Spiel und Gesang, faszinierend durch Scharfsinn, Humor und Lust…
Ja, es geht hier auch um Alternativen. Etwas um die Frage, wie man im zwar frommen, aber auch sinnfreudigen Barock glaubhaft für ausschließliche Askese hätte werben wollen? Und vielleicht auch darum, dass sich protestantische Christen bis heute schwerer damit tun als katholische, die Fröhlichkeit des Genießens mit der des Glaubens in Einklang zu bringen.
Zum 350. Todestag des mitteldeutschen Komponisten Heinrich Schütz, der immer ein bisschen im Schatten von Bach und Händel steht, hat nun die vor mehr als 20 Jahren am Bauhaus Dessau gegründete und inzwischen in Berlin beheimatete Truppe „Nico and the Navigators“ ein Musiktheater auf die Bühne gestellt.
Die Koproduktion der Navigators mit dem Heinrich-Schütz-Musikfest, den Kasseler Musiktagen, dem Staatstheater Kassel sowie dem Theater Altenburg Gera ist eine ebenso würdige wie heitere Ehrung für Schütz geworden: Virtuos in Musik, Tanz, Spiel und Gesang, faszinierend durch Scharfsinn, Humor und Lust – so, wie man es von der Truppe um die Chefin Nicola Hümpel und dem Bühnenbildner Oliver Proske nicht anders kennt. Die musikalische Leitung liegt bei Elfa Rún Kistinsdóttir (Barockvioline), der Autor Andreas Hillger hat die Dramaturgie besorgt.
Der Plan, die Dinge gemeinsam zu durchdringen und das Publikum zu verzaubern, ist einmal mehr aufgegangen, wie immer getragen von hoher Meisterschaft und bedingungslosem Einsatz. Das schließt alle Mitwirkenden ein, die eben nicht nur Musikerinnen und Musiker, Sängerinnen und Sänger sind, sondern zugleich auch Bühnenarbeiterinnen und Bühnenarbeiter, die das fantastische Bild, das Oliver Proske „gebaut“ hat, bewegen und zum Leben bringen.
Auch an Überraschungen fehlt es der 90-minütigen Produktion „Fleisch & Geist“ nicht: Da rutscht barocker Wohlklang plötzlich auf die Schräge, aus feinen Halskrausen können frivole Röckchen werden. Es wird viel gelesen, aber auch viel begehrt. Und fromme Bücher können schon mal durch die Luft fliegen. Das Fleischliche und das Denken, beides gehört zusammen, ohne Frage. Nicht nur hier.
… überbordend wie ein barockes Feuerwerk aber immer auch nah am Abgrund.
Die Widersprüche sind klar zu spüren. In der variantenreichen Musik von Schütz, aber auch im Kontrast zwischen den Worten, die gesungen werden und dem mimischen, dem tänzerischen Ausdruck. Der Tanz verführt, während Gott angebetet wird. Manchmal makaber, beängstigend, dann auch wieder urkomisch. Und immer wieder musikalische Ausreißer.
Eine Frau sitzt am vorderen Bühnenrand, spricht mehr, als dass sie singt. Ihre wirren blonden Haare verdecken das Gesicht. Eine düstere Stimmung, gedeckte Farben, Violett, Senf-Gelb, Braun, Alt-Rosa. Ein Schweben in andere Zeiten, Krieg, Pest und trotzdem das Bedürfnis nach geistiger Vertiefung. Darum Bücher überall Bücher in den Regalen an der hinteren Bühnenwand. Im Widerspruch dazu die unbedingte Lust am direkten Leben.
Nicola Hümpel, Regisseurin und Kopf von Nico and the Navigators verbindet in „Fleisch & Geist“ die Musik von Heinrich Schütz und einigen seiner Zeitgenossen mit heutigen Klängen, mit Tanz und viel, viel Aktion. Überbordend wie ein barockes Feuerwerk aber immer auch nah am Abgrund. ...
Die Widersprüche sind klar zu spüren. In der variantenreichen Musik von Schütz, aber auch im Kontrast zwischen den Worten, die gesungen werden und dem mimischen, dem tänzerischen Ausdruck. Der Tanz verführt, während Gott angebetet wird. Manchmal makaber, beängstigend, dann auch wieder urkomisch. Und immer wieder musikalische Ausreißer. ...
Die Arbeiten von Nico and the Navigators sind kreative Kollektivprozesse mit wechselnden Teams. Mit der Tänzerin Yui Kawaguchi arbeitet Nicola Hümpel schon sehr lange zusammen. Auch die männlichen Tänzer waren schon öfter dabei, genauso die beiden Mezzosopranistinnen und der Bassbariton. Die MusikerInnen rund um die Geigerin Elfa Run Kristinsdottir sind neu im Team. ...
Zehn Wochen haben sie intensiv gearbeitet. Parallel ist das komplexe Bühnenbild entstanden, mit Elementen, die von einer Treppe zum Altar werden können, oder die Sängerin oder Flötistin über die Bühne rollen. Symbolische Requisiten, wie mittelalterliche Halskrausen, werden auch kokett als Fächer oder als Tütü benutzt. In einer Szene verwandeln sich sogar überdimensionierte Buchrücken in eine solche Hauskrause und werden schließlich zu Adlerflügeln. ...
Und dann die Bücher, die vielen Bücher, am Ende zerfleddert, zerrissen, unbrauchbar, als Zeichen für absolute Endzeitstimmung: Apocalypse Now.
„Fleisch & Geist“ von Nico and the Navigators ist ein Panoptikum menschlicher Glanzleistungen und zugleich menschlicher Abgründe. … Mit enormer Ausdruckkraft und körperlichem Einsatz, der bisweilen an Akrobatik heranreichte, demonstrierten sie, wo es hinführt, wenn das Fleisch über den Geist die Oberhand gewinnt … ein hochgradig aktuelles Thema.
Völlig neu entdeckt, hat die Musik von Heinrich Schütz, Nicola Hümpel, Regisseurin und Prinzipalin des Künstlerkollektivs Nico and the Navigators. „Fleisch & Geist“ heißt die szenische Produktion, die sie im Rahmen des Schütz Musikfestes zur Premiere gebracht hat. „Ich gebe zu, ich hatte Berührungsängste und die sind mir jetzt genommen worden und ich habe angefangen sehr viel Musik von Schütz sehr schätzen und auch zu lieben, was natürlich dadurch ausgelöst wurde, dass wir sehr frei damit agiert haben.“
„Fleisch & Geist“ von Nico and the Navigators ist ein Panoptikum menschlicher Glanzleistungen und zugleich menschlicher Abgründe.
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Außerdem agierten eine Sängerinnen und ein Sänger sowie eine Tänzerin und zwei Tänzer. Mit enormer Ausdruckkraft und körperlichem Einsatz, der bisweilen an Akrobatik heranreichte, demonstrierten sie, wo es hinführt, wenn das Fleisch über den Geist die Oberhand gewinnt - für Regisseurin Nicola Hümpel ein hochgradig aktuelles Thema: „Die bitte Erkenntnis, dass tausende Jahre Evolution und Kulturgeschichte am Ende von einer Person dominiert, über den Haufen geworfen werden können und am Ende ist das Resultat eine Atombombe. Letztendlich, dass das ganze Wissen was wir uns angeeignet haben über viele tausend Jahre und die ganze Kultur, die wir geschaffen haben, auf dem Spiel steht gerade. Ich glaube kein Künstler kann im Moment auf die Bühne treten, ohne die aktuellen Geschehnisse mitzunehmen.“
Am Eden ist die Bühne ein Schlachtfeld. Die Bücher liegen zerfetzt überall herum, die Protagonisten sind halb oder ganz tot. Das Fleisch hat über den Geist, über die menschliche Kultur triumphiert. Als Zuschauer bleibt man ratlos zurück. Ein Ausweg? Vielleicht hilft die Rückbesinnung auf Heinrich Schütz, den man in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges als „Lumen Germaniae“, als „Licht Deutschlands“ bezeichnet hat.
Eine Koproduktion von Nico and the Navigators, Heinrich-Schütz-Musikfest | SCHÜTZ22, Kasseler Musiktage, Staatstheater Kassel und Theater Altenburg Gera. Nico and the Navigators werden von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa in Berlin gefördert. In Kooperation mit dem Kultur Büro Elisabeth.
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