Lebensrausch und Totentänze: Mit „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“ führen Nico and the Navigators ihr erfolgreiches Format der inszenierten Konzerte fort.
Mit der Uraufführung von „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens. Lebensrausch und Totentänze“ führen Nico and the Navigators im Konzerthaus Berlin ihr erfolgreiches Format der inszenierten Konzerte fort: Wie leben wir mit dem Wissen, dass wir sterben müssen? Gibt es Übungen, mit denen wir uns auf diesen Abschied vorbereiten können? Sollen wir den Tod, wie Nietzsche es vorsah, im letzten Moment zu einem Fest machen? Oder tanzen wir besser schon vorher auf dem Vulkan?
Zur Musik von Johann Sebastian Bach, Franz Schubert, Leonard Cohen, Rufus Wainwright, Klaus Nomi und anderen wechseln sich stille und rauschhafte Momente in einer lebendigen, musikalischen Debatte ab – und stellen dabei die Macht des Todes als ultimativen Maßstab allen Lebens dar. Die Tänzer Yui Kawaguchi und Ruben Reniers begegnen sich in ekstatischen Totentänzen oder werden selbst zur geheimnisvollen Macht der Endlichkeit. Ihnen begegnen der gefeierte russische Bariton Nikolay Borchev, die Sopranistin Julla von Landsberg, der amerikanische Tenor Ted Schmitz und die Schauspielerin Annedore Kleist in traurigen, lakonischen und rauschhaften Szenen.
Mit ihren Instrumenten sorgen die Geigerin Elfa Rún Kristinsdóttir, der Kontrabassist Winfried Holzenkamp und der Schlagzeuger Philipp Kullen für ein breites Klangspektrum zwischen Barock und Pop, zwischen Kunstlied und Quodlibet. Matan Porat, der sich sowohl als Pianist als auch als Komponist einen Namen gemacht hat, hat einen Teil der Musik kunstvoll-hintergründig bearbeitet und übernimmt am Flügel die musikalische Leitung.
„Es ist nicht nur Trauer und Melancholie, die von den Liedern transportiert wird. Sondern manchmal auch eine unerwartete Freundschaft mit dem Tod, ein Warten auf ihn, eine Begrüßung … Da ist es gut, dass Musiker und Tänzer ihren eigenen Weg durch das Material geschlagen haben und man sich über längere Passagen auch einfach ihrer Führung überlassen und den Tanz und ihre Musik genießen kann, ohne dabei über den Tod nachzudenken.“
Lebensrausch und Totentanz im Radialsystem: „Nico and the Navigators“ spielen in ihrem szenischen Konzert mit der Sterblichkeit
Plötzlich ist es Winter. Draußen vor dem Radialsystem natürlich nicht, da fahren die Partyboote über die Spree, am Ufer fächelt man sich Luft zu, und es ist auch abends noch heiß. Drinnen aber werfen sich Sänger und Tänzer Pelze über und schwarze Mäntel, Boas aus schwarzen Federn und dunklen Kapuzen. Als könnte man sich so vor dem Tod schützen, der Kälte des Sterben und der Angst davor. Denn sie durchqueren das Feld vor dem Lebensende, „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“ ist das weitgefächerte Programm von Liedern übertitelt, die von der altehrwürdigen Musik (John Dowland, Claudio Monteverdi, Bach) über ein breites romantisches Mittelfeld (Schubert, Tschaikowsky, Chopin, Mussorgsky) bis in die Gegenwart (Lou Reed, Leonhard Cohen) reichen.
Die Compagnie „Nico and the Navigators“ um die Regisseurin Nicola Hümpel spielt seit 20 Jahren in Berlin an immer wechselnden Orten. Musiker, Schauspieler, Tänzer und Sänger gehören dazu, sie bearbeiten Theater und Musikgeschichte. Das szenische Konzert „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“ wurde im Konzerthaus Berlin im März uraufgeführt. Das Verhältnis von Tod verändert sich, und das spiegelt sich in der Musik. Kann man sich heute noch vorstellen, Totenmasken der verstorbenen Familienmitglieder aufzuhängen?, fragt die Schauspielerin Annedore Kleist. Einer ihrer Monologe gilt der Sorge um die Gesundheit, Gene, Sport, Ernährung, Stressmanagement, breit gefächert sind die Themen, die in diesem Kontext plötzlich wie ein großer Apparat wirken, den Gedanken an die eigene Sterblichkeit weit von sich weg zu halten. Yui Kawaguchi und Ruben Reniers haben etwas Archaisches und Groteskes in ihren Tänzen. Aus ihren Fellkostümen schnellen oft nur die Arme hervor, die Hände greifen wie Klauen. Die könnten Geister sein, die zwischen Lebenden und Gestorbenen vermitteln. Mal stemmen sie sich gegen die Sänger, geben Widerstand oder zerren an ihnen und die Lieder verändern damit ihre Energie, intensivieren sich im Ausdruck. Selten schalten sie sich mit einer Illustration ein, dann werden sie zum kräftig, fast volkstanzenden Paar. So auch in „Dance me to the end of love“, der Ort eine Leichenhalle, wo rechts und links schon die Toten liegen.
Es ist nicht nur Trauer und Melancholie, die von den Liedern transportiert wird. Sondern manchmal auch eine unerwartete Freundschaft mit dem Tod, ein Warten auf ihn, eine Begrüßung. Wenn die Sopranistin Julla von Landsberg „Komm großer schwarzer Vogel“ von Ludwig Hirsch sing, immer wieder von Lachen unterbrochen, ist das von unglaublicher Zustimmung. Wenn der Tenor Ted Schmitz sich in der Arie „Vorrei morire“ von 1878 dagegen vorstellt, an einem Frühlingstag sterben zu wollen, wenn die Vögel singen, mag man zwar von der lyrischen Stimmung hingerissen sein, stolpert dann aber doch über zu viel Süße und Verklärung. Wenn der Bariton Nikolai Borchev von Joseph Haydn „Das Leben ist ein Traum“ singt, uns von Ted gefragt wird, klingt das jetzt nicht wie eine Bierreklame, wäre man da selbst gerade nicht drauf gekommen. Die Gefühle, die von der Musik entzündet werden, nehmen schon den größten Raum ein, aber wie sie sich gegenseitig kommentieren, oder gelegentlich auch ausscheren aus einer gerade eingeschlagenen Richtung, macht die Sache spannender. Allerdings ist der Abend lang, nicht immer versteht man die Texte, die im Programmheft alle nachzulesen sind. Da ist es gut, dass Musiker und Tänzer ihren eigenen Weg durch das Material geschlagen haben und man sich über längere Passagen auch einfach ihrer Führung überlassen und den Tanz und ihre Musik genießen kann, ohne dabei über den Tod nachzudenken.
„Mit dem Tod setzt sich niemand wirklich gern auseinander… Doch wenn sich ‚Nico and the Navigators‘ dieses Themas annehmen, ist Furcht fehl am Platz, zu klug und verspielt, zu heiter und nonchalant ist der Stil von 1998 von Nicola Hümpel (Regie und künstlerische Leitung) und Oliver Proske (Raumkonzeption) gegründeten Compagnie.“
Mit dem Tod setzt sich niemand wirklich gern auseinander. Man verdrängt das Thema lieber, weil man sich nicht mit der Tatsache konfrontieren möchte, dass es für jede und jeden ein endgültiges Ende gibt, und manchmal unter schlimmen oder schmerzlichen Umständen. Doch wenn sich „Nico and the Navigators“ dieses Themas annehmen, ist Furcht fehl am Platz, zu klug und verspielt, zu heiter und nonchalant ist der Stil von 1998 von Nicola Hümpel (Regie und künstlerische Leitung) und Oliver Proske (Raumkonzeption) gegründeten Compagnie. Im April kam ihr neues Stück „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“ im Konzerthaus zur Uraufführung. Nun ist dieser Abend über „Lebensrausch und Totentänze“ für drei Vorstellungen im Radialsystem zu sehen.
Nico and The Navigators mit „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“
Schon der Titel ist ein kleiner Gag, da es natürlich keinerlei Versicherung für die kecke Aussage gibt. Aber in seiner Unbeschwertheit möchte man ihm unbedingt glauben, oder? Vielleicht ein wenig auch seinetwegen wird diese Produktion vom Publikum so geliebt. „Wir konnten uns überall über ein super positives Feedback freuen“, erzählt Nicola Hümpel: „Die Zuschauer lassen sich meistens offen und ohne Scheu auf die verschiedenen Aspekte der Produktionen ein. Bei Diskussionen nach der Aufführung wurde leidenschaftlich und überaus ehrlich diskutiert, das war eine ganz besondere Erfahrung.“ Für das Ensemble ist es natürlich extrem aufbauend, dass die intensive und ungeschützte Auseinandersetzung mit dem Komplex „Sterben und Tod“ so gewürdigt wurde. Die Akteure begreifen das als Ermunterung, weiterhin gegen die Oberflächlichkeiten des Alltags mit den Mitteln der Kunst anzugehen. Und sich selbst zu prüfen, welchen Sinn und Zweck es hat, immer aktiv sein und in jeder Situation die Kontrolle behalten zu wollen. Denn manche Dinge sind stärker – und manchmal ist es besser, sich auf sie einzulassen als sich um jeden Preis gegen sie zu wehren. Persönliche Erlebnisse spielen eine Rolle in diesem Stück, die finalen Abschiede zum Beispiel von denen Großeltern und Eltern, von Freunden und Kollegen. Nicola Hümpel wurde unter anderem von Michael Hanekes Film „Liebe“ inspiriert. Erst wollte sie gleich wieder aus dem Kino flüchten, dann ist sie doch geblieben und war ganz glücklich, dem alten Ehepaar bis zum Schluss zugeschaut zu haben. Trotzdem verkriecht sich das „inszenierte Konzert“ nicht in Melancholie und Schwermut, sondern versteht sich als furchtloses, entschlossenes Fest des Lebens – gerade im Angesicht des Todes. Es gibt viel zu lachen und nicht nur depressive Musik. Im Grunde sei der Abend dionysisch geprägt und zeigt hochgestimmt die Lust am Dasein als „Tanzen und Feiern gegen die eigene Sterblichkeit“, so Hümpel. Dementsprechend gibt ein Satz von Christoph Schlingensief, der 2010 im Alter von fünfzig Jahre verstarb, die Richtung vor: „Am liebsten würde ich einfach allen Menschen zurufen, wie toll es ist, auf der Erde zu sein!“ Außer den Tänzern Yui Kawaguchi und Ruben Reniers wirken Sänger mit und lassen nebenher allerlei suggestiven Geräuschen Werke etwa von Johann Sebastian Bach und Franz Schubert sowie Songs von Leonard Cohen, Ludwig Hirsch, Rufus Wainwright und Paul Simon („The Sound of Silence“) erklingen. Überdies sorgen die Geigerin Elfa Rún Kristinsdóttir, der Kontrabassist Winfried Holzenkamp und der Schlagzeuger Philipp Kullen mit ihren Instrumenten für ein breites Klangspektrum zwischen Barock und Pop, zwischen Kunstlied und Quodlibet. Für die musikalische Leitung und die Bearbeitungen ist Matan Porat zuständig, der selbst am Klavier sitzt. Nach diesem multiplen und herausfordernden Sujet wird sich die Compagnie, die trotz der enormen Erfolge im In- und Ausland Jahr für Jahr ums ökonomische Überleben kämpfen muss, demnächst zum 100-jährigen Bestehen dem Bauhaus widmen. „Der Verrat der Bilder wird als performative Reise durch die Dessauer Meisterhäuser, das Berliner Kolbe Museum und bis nach Brüssel führen und nach der Verlässlichkeit des Sichtbaren wie der Manipulation von Wahrnehmung fragen.
„Das Bewegungs-Vokabular scheint schier unerschöpflich, inklusive Derwisch-Ekstase und computerspiel-figürlicher Ruckeligkeit … 400 Jahre umfaßt das musikalische Spektrum dieses „staged concert“. Der Respekt vor dem Original schließt zeitgenössische Aneignung nicht aus. Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht …“
Vorweg: Amuse-Esprit, mit freundlicher Unterstützung von Wikipedia
Navigation – von lat. navigare (Führen eines Schiffes), sanskrit navgathi – ist die „Steuermannskunst“ zu Wasser, zu Land und in der Luft …. Dem Steuern gehen zwei geometrische Aufgaben voraus: das Feststellen der momentanen Position (…) und das Ermitteln der besten Route zum Zielpunkt … Navigation im allgemeinsten Sinn schließt noch weitere Aspekte ein, beispielsweise den Gleichgewichtssinn und die Raumvorstellung. Sie kann dann definiert werden als das Sich-Zurechtfinden in einem topografischen Raum, um einen gewünschten Ort zu erreichen.
Mit Tanz, Performance, Schauspiel und Musik haben Nico & The Navigators die „Steuermannskunst“ im Element der Bühne etabliert, als das Sich-Zurechtfinden im offenen Raum menschlichen Daseins.
Vorspeise: Zurück zu den Wurzeln, eigene Ernte
Das erste Mal habe ich im Juni 2000 über Nico & The Navigators geschrieben. Die Company präsentierte damals in den Sophiensaelen „Eggs on Earth“:
Nicola Hümpel hat diese kleine Compagnie 1998 am Bauhaus in Dessau gegründet, inzwischen ist sie in Berlin ansässig, „Ich war auch schon mal in Amerika“ hieß das erste, noch in Dessau erarbeitete Stück, danach kam „Lucky Days, Fremder“, und jetzt also „Eggs on Earth“. Und mit dieser, ihrer erst dritten Produktion überschreitet die Truppe endgültig die Grenze vom Geheim-Tipp zur Szene-Größe … Wenn „Nico & The Navigators“ so weitermachen, dürfte ihnen auf diesem Weg nichts entgegenstehen.
Im letzten Jahr, also 2018, feierte die Company ihr 20-jähriges Bestehen. Ein Wunder, im Angesicht der ebenso enormen wie nachhaltigen Finanzierungsprobleme, mit denen die Freie Gruppe – ungeachtet ihrer künstlerischen Erfolge – bis aufs Blut zu kämpfen hat. Immer und immer und immer wieder.
In der Jubiläumsproduktion „Die Zukunft von gestern – Menschenbilder 2.0“ verglichen die „Navigatoren“ ihre Träumen und Ängste von damals mit denen von heute und ihre Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft. Das Schwelgen in Erinnerung wurde zur Reflexion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Auf einem sehr schmalen Grat zwischen Pathos und Unsinn, Melancholie und Leichtigkeit, Instinkt und Intellekt haben Nicola Hümpel, ihr kongenialer Bühnen- und Kostümbildner und Lebensgefährte Oliver Proske und ihre Mitspieler, die Navigators, stets existenzielle Fragen spielerisch erforscht, dabei aus dem Fundus der eigenen Erfahrungen geschöpft und aus den von Nico „angeleiteten Improvisationen“ die Stücke entwickelt. Sie nennen sie Menschenbilder. Oder Denklandschaften.
Liebe, Freundschaft, Familie. Entscheidungen, Irrwege, Ängste. Glück, Unglück. Sehnsucht, Fremdsein. Und jetzt: der Tod. Und das Leben davor. Eros und Thanatos. Nicht mehr und nicht weniger.
Hauptgang: Das neue Stück, Selbstverkostung
Schwankende Gestalten nähern sich von den Rändern her. Lemurenartige schwarze Schatten. Geister ohne Korpus, nur Extremitäten: Hände, Füße. Aber sie haben eine Stimme, Und sie singen: Matthias Claudius’ „Abendlied“, vertont von Johann Abraham Schulz (1747-1800)
Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Laß uns im Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!
Nein, Moment mal: der Himmel kann warten. Es muss ja erst noch getanzt und gesungen werden. Kein Leben ohne Tod. Aber auch kein Tod ohne Leben. Kein Verlust ohne Gewinn. Vor den Todestänzen kommt der Lebensrausch. Aber feiert man das Leben erst, wenn der Tod einem schon auf der Pelle sitzt? „Niemand stirbt in der Mitte seines Lebens“, weil: wer weiß schon, wo sie ist, die Mitte, wenn man das Ende nicht kennt?
Ist der Tod das Ende? Ist er ein Schreckgespenst? Oder ein Erlöser? Und muss ich auf Opas Beerdigung weinen, obwohl ich einfach nur hungrig bin? (fragt Matan Porat, musikalischer Leiter des Abends)
Schier unerschöpflich ist das Reservoir an Gedanken und Gefühlen, persönlichen Erfahrungen, philosophischen Tief- und künstlerischen bis humoristischen Ausdrücklichkeiten. Ich war auch grade wieder auf einer Beerdigung mit anschließendem Leichenschmaus. Aber wie kann man das fassen in einem Theaterabend, der einen Anfang haben muss und auch ein Ende? Und eine überschaubare Dauer. Zwei Stunden. Eine Pause. Getränke kann man dafür vorbestellen. Ich kann es nicht anders sagen: aber diese Navigators haben wieder einmal ihre „Steuermannskunst“ bewiesen. Was so traumwandlerisch sicher erscheint, ist harte, kreative Arbeit. Im Programmheft heißt es: “Suchen, bis es knirscht.“
Zutaten und Beilagen, New Remixes
Der Theaterraum hat Wände, das Spiel kennt keine Grenzen. Nicht in der Zeit. Nicht im Raum. Nicht geographisch. Nicht kulturell. Nicht national. Ethnisch oder religiös sowieso nicht. Die Navigators dieser Produktion kommen von hier, aus Israel, USA, Italien, Rußland, Japan, Indonesien/Niederlande. Sie sprechen verschiedene Körper-/Sprachen und sind ohne Weiteres in der Lage, ein Ensemble zu bilden. Sich zu verständigen, zu befruchten, zu bereichern.
Das Bewegungs-Vokabular scheint schier unerschöpflich, inklusive Derwisch-Ekstase und computerspiel-figürlicher Ruckeligkeit. Mit dem neuen Navigator Ruben Reniers hat die expressive Yui Kawaguchi einen adäquaten Partner gefunden. 400 Jahre umfaßt das musikalische Spektrum dieses „staged concert“. Der Respekt vor dem Original schließt zeitgenössische Aneignung nicht aus. Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht …. Die ältesten Stücke stammen aus einer Zeit, als die meisten Menschen, noch glaubten, die Sonne drehe sich um die Erde und nicht umgekehrt. Von Monteverdi, Bach, Händel, Beethoven, Mozart, Rameau, Schubert (kein Nico-Stück ohne Schubert!!!), sogar Ligeti bis zu Hank Williams, Paul Simon und Rufus Wainwright. Und Leonard Cohen: Sein „Dance Me to The End Of Love“ singen Julia von Landsberg und Ted Schmitz im Duett, derart mit balkaneskem Drive angetriebenen Matan Porat ( Klavier), Elfa Rún Kristindottír (Violine) und Wilfried Holzenkamp (Kontrabass & E-Bass), daß er selbst wahrscheinlich sein Werk kaum wiedererkennen würde.
Später zelebriert Julia von Landsberg, die Sopranistin, noch in entsprechender Mundart und schrill-grotesker Performance die Legende von der austriakische Affinität zur Morbidität mit dem legendär dunkel-grauen Song von Ludwig Hirsch: „Komm, großer schwarzer Vogel“, der seinerzeit nach 22 Uhr nicht mehr im österreichischen Rundfunk gespielt wurde, aus Angst, die Hörer könnten zum Selbstmord inspiriert werden.
Und dann fliegen wir rauf, mitten in Himmel rein,
in a neue Zeit, in a neue Welt.
Und ich werd‘ singen, ich werd‘ lachen,
ich werd‘ „das gibt’s net“, schrei’n,…
Außerordentlich tröstlich für die Zuschauer entwickelt indes Annedore Kleist mit ihrer bodenständigen Diktion die Beweiskette, dass keiner von uns Zuschauern, stürbe er auch während der Aufführung, auf der Stelle entsorgt würde, sondern bis zum Schlussapplaus dabei bleiben dürfte.
Welche Farbe hat der Tod? Schwarz? Weiß? Trägt er Kapuze? Hosen? Röcke? Alles. Mal so. Mal so. Von schwarzen Tierfellen bis weißen Teddy-Mänteln, oder nur Arm-Stulpen zum Engels-Gewand. Alles dabei.
Es wird auch gesprochen. Annedore Kleist, die Schauspielerin unter den Navigators, zitiert Christoph Schlingensief: „Am Liebsten würde ich einfach allen Menschen zurufen, wie toll es ist, auf der Erde zu sein.“ Oder: „dass sich der Hass nicht lohnt.“
Nachspeise: Zweierlei vonder Total Eclipse, höllisch heiß serviert
1743: Arie des Samson. Musik: Georg Friedrich Händel – Text: John Milton
1981: Arie des Klaus Nomi. Songwriter: Kristian Hoffman.
Ted Schmitz wächst – beides ineinander singend – noch einmal über sich hinaus.
Phillipp Kullen inszeniert auf seinem Schlagzeug ein letztes wildes Aufbäumen.
Dann noch ein anhaltender Geigenton von Elfa Rún Kristinsdóttir, wie das Exitus-Signal einer Krankenhaus-Maschinerie.
Hello Darkness. Just Silence.
„Da ist er plötzlich, der Ausbruch aus der Gleichgültigkeit, der Totentanz und der Rausch des Lebens, diese Ambivalenz, die Dringlichkeit und Unvermeidlichkeit, die Leidenschaft und die Tränen … Der bittersüße Stachel sitzt.“
Das Kollektiv Nico and the Navigators wühlt sich in "Niemand stirbt in der Mitte des Lebens" durch 400 Jahre Musikgeschichte - mit Schwerpunkt auf dem Tod. Bei der Premiere im Berliner Konzerthaus fehlte am Mittwoch die emotionale Fallhöhe, schreibt Jakob Bauer. Er darf natürlich nicht fehlen bei einem Abend über den Tod: Der Trauermarsch von Chopin, der in tiefer Schwärze durch den Saal walzt. Es ist Musik, die im Bruchteil von Sekunden Bilder wachruft, von Beerdigungen, von weinenden Menschen - an den Tod. Er ist mit dieser eindeutigen Zuordnung und Verortung die absolute Ausnahme an diesem Abend. Denn die sechs Frauen und Männer auf der Bühne, die tanzen und singen, Persönliches preisgeben und mit den Worten von Dichtern und Denkern über den Tod philosophieren, zeichnen an diesem Abend alles andere als ein eindeutiges Bild vom Tod. Von Monteverdi zu Hank Williams Das wird schon ganz am Anfang klar: Da wechseln die Navigators von knapp 400 Jahre alter Musik von Monteverdi zu Countrylegende Hank Williams. "The Angel Of Death" heißt das Lied, das sich textlich unzweifelhaft schwermütig mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt. An diesem Abend allerdings spielt der Schlagzeuger der Navigators auf einer Marimba – wodurch der Angel of Death seine Gefahr verliert und eher eine heitere Note entwickelt. Die wird nicht nur dadurch verstärkt, das zwei in schwarz gehüllte Gestalten eher komisch als gruselig an der Marimba herumfuhrwerken und versuchen, den Schlagzeuger aus dem Takt zu bringen. Denn die ironische Brechung des vermeintlich so schweren Themas Tod hat an diesem Abend System. "Als ich bei der Beerdigung meiner Oma war, dachte jeder, ich wäre traurig. Aber ich war nur hungrig", erzählt der musikalische Leiter des vierköpfigen Ensembles, Matan Porat, zu Beginn der zweiten Hälfte des Abends. Auch alle anderen Künstlerinnen und Künstler - Musiker, Tänzer und Sänger - erzählen kleine persönliche Geschichten zum Tod, von heiter bis wolkig, witzig oder ohne jegliche Pointe. Zwischen den Stücken denkt eine Sprecherin über den Tod nach: Wovor sollte ich Angst haben? Was ist eigentlich Zeit und wie viel habe ich noch davon? Was würde passieren, wenn hier im Raum jemand stirbt – wird der Tod nicht zu sehr tabuisiert? Der Abstand zum Tod bleibt Je mehr Zeit an diesem Abend vergeht, desto mehr wirkt es so, als würde man auch hier dem Tod nicht wirklich näher kommen. Das Thema soll ambivalent und nicht zu schwer behandelt werden – gut, aber dadurch machen es sich zumindest hier die Gefühle im Mittelmaß bequem. Man ist anerkennend, aber wenig bewegt. Die Musik der mehr als 30 Stücke ist toll ineinander verzahnt – die Emotionen nicht. Zu vieles ist mit einem buchstäblichen Zwinkern vorgetragen. Aber der teilweise in Slapstick gehende Humor bräuchte erstmal eine emotionale Fallhöhe, um wirklich wirken zu können. Wenn sich hier im wahrsten Sinne des Wortes Asche aufs Haupt geklatscht wird, ist das weniger kathartisch als albern. Man hält sich zurück, der Abstand zum Tod bleibt. Und außenherum geht die Welt unter Bis zum letzten Viertel des Abends. Eingeleitet von Chopins Trauermarsch und dem Schlingensief-Zitat "Am liebsten würde ich einfach allen Menschen zurufen, wie toll es ist auf der der Erde zu sein" drehen die Navigators auf. Da ist er plötzlich, der Ausbruch aus der Gleichgültigkeit, der Totentanz und der Rausch des Lebens, diese Ambivalenz, die Dringlichkeit und Unvermeidlichkeit, die Leidenschaft und die Tränen. Während sich ein Paar ganz langsam, liebevoll blickend - sie in Schwarz, er in Weiß - auf der Bühne dreht, geht die Welt um sie im musikalischen Chaos und mit wildem Derwischtanz zu Teufel. Der bitter-süße Stachel sitzt. Er hätte nur ruhig noch etwas tiefer bohren können.
Eine Produktion von Nico and the Navigators. Koproduziert von dem Konzerthaus Berlin und Bozar Music Brüssel. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa. In Kooperation mit dem Radialsystem.
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