Konzert der Körper: Mit der inszenierten Version von Gioachino Rossinis kleinen feierlichen Messe entführen Nico and the Navigators in die Welt eines religiösen Zweiflers.
Petite messe solennelle
Die letzte Komposition des italienischen Opernspezialisten Gioachino Rossini (1792-1868) erscheint wie ein Sinnbild für seine seelische Zerrissenheit zwischen Glaube, Zweifel und Humor. Auf die Verschmelzung mit Gott folgt in der „Petite messe solennelle“ immer wieder der Rückzug in die Einsamkeit oder ein vom Schalk getriebener Blick auf die „Letzten Dinge“.
Musique sacrée – oder sacrée musique? Die Frage nach dem Verhältnis von Heiligem und Verdammungswürdigem hat Rossini einst selbst seiner „Petite messe solennelle“ vorangestellt. In einer Widmung an den lieben Gott entschuldigte sich der Komponist 1864 – also 34 Jahre nach seinem letzten Bühnenwerk – vorsorglich damit, dass er ja eigentlich für die Opera Buffa geboren sei: „Du weißt es wohl! Ein bisschen Können, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.“ Ein starker Satz, demütig und fordernd zugleich. Wie also trifft man jenen Ton, den Rossini als augenzwinkernde Abgrenzung vom Charakter der Missa solemnis einst als semi seria – halb ernst, halb heiter – beschrieben hat?
Gemeinsam mit dem Dirigenten Nicholas Jenkins sowie zwölf SängerInnen, drei PianistInnen und vier PerformerInnen verwandelt Nico Hümpel Rossinis Oratorium in Bilder und übersetzt es in ihre eigenwillige Sprache. Dabei skizziert das Ensemble die Höhenflüge und Abgründe der letzten Lebensphase Rossinis und entführt in die Welt eines „lebensbejahenden Zweiflers“; zwischen zarten Gefühlen, intellektueller Dekadenz, Ironie und den Nachwehen der Revolution. Das Allerheiligste trifft das Allermenschlichste – musique sacrée oder sacrée musique.
„Ein einzigartiges, bemerkenswert intelligentes und feinsinniges Stück…“
Seit einigen Jahren veranstaltet die Pariser Opéra Comique ihre monatlichen Vorstellungsreihen rund um ein Hauptstück und hält oft wunderbare Überraschungen brereit. So beim April-Festival, wo es ein einzigartiges, bemerkenswert intelligentes, wenngleich für einige Zuschauer wohl auch verwirrendes Stück zu entdecken gab: mit dem von der Berliner Compagnie Nico and the Navigators und ihrer Regisseurin Nicola Hümpel neu erfundenen Rossini wurde sogar das Hauptstück des Monats ("Die Stumme von Portici") übertroffen. Auf Europatour nach ihrer Uraufführung beim Kunstfest Weimar im vergangenen September war diese Petite Messe für leider nur zwei Abende in Paris zu erleben. Die sehr gelungene Bühne von Oliver Proske scheint auf den ersten Blick in der Rue Favart zwar ein wenig eingeengt – aber dieser Eindruck schwindet schnell angesichts der Kohärenz des gesamten Unternehmens. Eine höchst seltsame, fassbinder’sche Figur mit Kapuzenmantel und Sonnenbrille und eine zweite namens Benedikt (siehe da!...) symbolisieren in dieser inszenierten Fassung des Werks die Begegnung zwischen Glaube und Vernunft. So erlaubt sich Nicola Hümpel, der Partitur einige Dialoge hinzuzufügen, die, so harmlos sie sind, doch nie bloßem Gerede verfallen (abwechselnd auf Deutsch und Englisch, mit einigen Einwürfen auf Französisch). Man kann nicht gerade behaupten, dass sich Hümpels Sichtweise in den Dienst kirchlicher Rituale stellt (das Geheimnis der Eucharistie wird eher spöttisch beäugt), aber ebenso wenig geht es ihr um das Vergnügen, „den guten Bürger zu schockieren“. Bis in die Fingerspitzen ist die Regisseurin mit ihrem Neuen Testament vertraut und lässt sich in der Annäherung an Rossinis Werk immer wieder davon inspirieren. Daraus erwächst ein erstaunlich fließender, schwer in Worte zu fassender Abend. Erwähnt seien nur diese zwei halbrunden Bühnenelemente, die auf skurrile Weise erst Jesus’ Gang übers Wasser und anschließend - aufgerichtet und aneinandergestellt - die Durchquerung der engen Pforte andeuten, ein Bild, das sich frech auch als Sicherheitskontrolle unterm Metalldetektor lesen lässt. Am Ende des Abends, wenn das Agnus Dei erklingt, findet man alle Sänger-Schauspieler liegend auf der Bühne wieder, die Augen gen Himmel gerichtet, die Arme erst weit und flehend ausgebreitet, dann rachsüchtig zur Faust geballt: dieses Bild spiegelt wunderbar den Geist dieser Petite Messe solennelle zwischen Glaube und Skepsis, Spiritualität und Materialismus. Den vier Darstellern und Tänzern, stehen die zwölf Sänger (darunter die Solisten Laura Mitchell, Ulrike Mayer, Milos Bulajic und Nikolay Borchev) auf musikalischem Niveau in nichts nach. Wer will, dem mag zwar das ein oder andere Detail auffallen, aber viel wichtiger ist doch hervorzuheben, wie sehr sich alle Beteiligten in Hümpels Vorhaben integrieren - so auch die großartigen Pianisten David Zobel, SooJin Anjou (Flügel) und Jan Gerdes (Harmonium) oder der Dirigent Nicholas Jenkins, allesamt Protagonisten eines feinsinnig arrangierten Stückes.
„Nach Stücken zu Schubert und Händel ist die Kompanie bei jener Messe des alten Maestro Rossini gelandet, die dieser 34 Jahre nach seiner letzten Oper komponierte. Melodische Inbrunst und Eleganz werden darin nonchalant mit dem Augenzwinkern simpler Begleitfiguren an zwei Klavieren serviert. Dazu zimmern sich Nico and the Navigators eine Art Theatertheologie: Bilderstreitszenen um Glaube, Irr- und Aberglaube, um das Zweifels- und Zwiespaltgebot, Fragen nach Religion, Ritual, Humanität, Sehnsucht und seelische Gewalt in christlicher Utopie – Witz inbegriffen. Solche „Glaubensbekenntnisse“ wollen nichts beantworten, nur Fragen stellen.“
Wie die Ganzkörperpoeten von Nico and the Navigators Rossinis "Petite messe solennelle» zu einer Performance machen «Glaubensbekenntnisse im 21. Jahrhundert» nennt die Berliner Off-Theatertruppe Nico and the Navigators ihre neue, vom Kunstfest Weimar in Auftrag gegebene Kreation - ein «Oratorium als Bildertheater» nach Gioachino Rossinis «Petite Messe solennelle». Die Mixtur aus Gesang, Schauspiel, Tanz, Slapstick und Tragikomödiantik kann selbst ein lateinisch-katholisches Messritual musiktheatralisch in Schwung versetzen, so geschehen bei der Uraufführung am Theater Erfurt. Die Produktion wird Mitte November im Berliner Radialsystem gezeigt, im April und Juni 2012 in Dijon, Paris und Bregenz. Zwei pausenlose Stunden lang «navigiert» die Performance-Gruppe mit der Ausdruckswucht eines exzessiven Körper-Bilder-Theaters durch Rossinis Messe-Stationen. Vor dreizehn Jahren begannen Nicola Hümpel und Oliver Proske, Gründer des Kollektivs von «Ganzkörperpoeten», ihre Ästhetik zu entwickeln - ausgehend vom Bauhaus Dessau. Erste große Resonanz erhielten sie in Berlins Sophiensälen mit dem Zyklus «Menschenbilder». Nach Performances zu Schubert und Händel sind sie bei jener Messe des alten Maestro Rossini gelandet, die dieser 34 Jahre nach seiner letzten Oper komponierte. Melodische Inbrunst und Eleganz werden darin nonchalant mit dem Augenzwinkern simpler Begleitfiguren an zwei Klavieren serviert. Dazu zimmern sich Nico and the Navigators eine Art Theatertheologie: Bilderstreitszenen um Glaube, Irr- und Aberglaube, um das Zweifels- und Zwiespaltgebot, Fragen nach Religion, Ritual, Humanität, Sehnsucht und seelische Gewalt in christlicher Utopie - Witz inbegriffen. Solche „Glaubensbekenntnisse“ wollen nichts beantworten, nur Fragen stellen. Konzept und Regie Nicola Hümpels schaffen auf der durch Requisiten definierten Bühne Oliver Proskes einen Reigen scheinbar alltäglicher Menschen in kunstvoll stilisierten oder trashig frech ausufernden Bildern und Sketchen, die die Messtexte vom «Kyrie eleison» bis zum «Agnus Dei» nicht verdoppeln und aktualisieren, sondern kontrapunktieren, assoziativ zerfasern. Bewegung dominiert alles: Vier Gesangsolisten und acht Chorsänger sind ständig unterwegs, sogar die drei Instrumente, zwei Klaviere (SooJin AnJou, David Zobel) und das Harmonium (Jan Gerdes) werden auf der Bühne hin- und hergefahren. Selbst der agile britische Dirigent Nicholas Jenkins, früher Assistent Marc Minkowskis, wechselt die Standorte, lässt sich in die «Handlung») hineinziehen. Zum Prinzip der Truppe gehört das Improvisieren, trainiert in Übungen und Workshops: Gesangsstimme, Rollenspiel, Individualität sind gleich wichtig. Oft schieben sich zwischen Rossinis Messteile Abschnitte, in denen die Figuren als Instanzen von Lebens- und Glaubenssituationen agieren: ein Priester, Psychiater, Schamane, ein Rationalist oder Wissenschaftler, ein heruntergekommener Mafioso, eine seraphische Engel-Figur in leuchtendem Rot (die mit gelenkigen Tanzschritten bizarr wirbelnde Yui Kawaguchi): Sie alle sind Sinnbilder der Gespaltenheit menschlicher Existenz, der Ambivalenz, der Gefühlsabgründe. Es ist die choreografische Leichtigkeit in der Fülle ernster Rätselbilder, die die Produktion spannungsvoll und kurzweilig macht - und bei aller ästhetischen Leidenschaft unterhaltsam. Und es ist Rossinis fließende, kunstvolle, ehrliche, scheinbar heitere Musik, die diese Sinnsuche in einem aufgefächerten Bilderbogen rhythmisiert. Religionsphilosophie in Bewegung, Tanz auf den Projektionsflächen des Agnostizismus, Imaginationen der Verstörung im perfekten Timing.
„Es ist die choreographische Leichtigkeit in der Fülle der Rätselbilder, der aufblitzende Humor, die virtuose Groteske und der Nonsense spielerischer Aktionen, was die Produktion so zwingend kurzweilig, so spannungsvoll wie unterhaltsam macht. Und es ist Rossinis wie von selbst fließende, kunstvoll elegante, dabei scheinbar arglose Musik, die diese atemlos verstörende Sinnsuche in einem großen Bilderbogen rhythmisiert. Eine Philosophie in Bewegung, ein Tanz auf den Projektionsflächen des Agnostizismus, Imaginationen der Verstörung in perfektem Timing – die hohe Kunst von Nico and the Navigators… Am Ende Ovationen.“
Nico & the Navigators brillieren mit Rossinis 'Kleiner Messe' Erst das 'Musiktheater', so erinnert man sich, verhalf der guten alten Oper aufs Karussell ihrer Möglichkeiten und brachte sie in Fahrt - mit jeder Umdrehung neue Bilder, für jede Generation eine eigene Tiefenschärfung. Nico and the Navigators heißt die Berliner Theatertruppe, die mit einem Stilmix aus Gesang, Schauspiel, Tanz, Slapstick und Tragikomik selbst ein lateinisch-katholisches Messritual musiktheatralisch in Schwung versetzen kann, so geschehen beim Kunstfest Weimar, uraufgeführt am Theater Erfurt: In fast zwei pausenlosen Stunden 'navigiert' die Performancegruppe, jedes einzelne Mitglied der Kompanie, mit der Ausdruckswucht der Körpersprache durch Gioachino Rossinis 'Petite messe solennelle', hier genannt ein 'Oratorium als Bildertheater'. Nicola Hümpel und Oliver Proske, beide um die vierzig, sind die Gründer des Kollektivs der 'Ganzkörperpoeten', das seine Ästhetik vor dreizehn Jahren zu entwickeln begann. Ausgehend vom Bauhaus Dessau erhielten sie erste internationale Resonanz mit dem Zyklus 'Menschenbilder' in den Berliner Sophiensälen. Und nach der Schubert-Show 'Wo du nicht bist' und dem Händel-Pasticcio 'Anaesthesia' sind sie jetzt bei der späten Messe Rossinis gelandet, die der Komponist sich noch einmal abverlangte, 34 Jahre nach seiner letzten Oper. Der betagte, in Paris mürbe gewordene Maestro der Opera buffa hat sie dem lieben Gott angetragen, den er launig anredet: 'Du weiß es wohl! Ein bisschen Können, ein bisschen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies.' Gepfefferte Ambivalenz steckt in dem Satz wie auch im Ansatz der Aufführung: Rossinis Musik mischt melodische Inbrunst nonchalant mit dem Augenzwinkern simpelster Begleitfiguren, Nico and the Navigators behaupten dazu eine Art Theatertheologie, bauen Stationen eines szenischen Bilderstreits um Glaube oder Irr- und Aberglaube, um das Zweifels- und Zwiespaltsgebot, um Fragen nach Religion, Ritual, Humanität, Sehnsucht und seelische Gewalt in christlicher Utopie, Witz inbegriffen. Doch diese 'Glaubensbekenntnisse im 21. Jahrhundert' wollen nichts beantworten, nur Fragen stellen - in einer Flut sanft rieselnder Musik durch die Stationen der lateinischen Messe für Soli, Chor und Instrumente. Was Konzept und Regie Nicola Hümpels auf der durch drehbare Requisiten definierten Bühne Oliver Proskes bieten, ist ein Reigen scheinbar alltäglicher Menschen in kunstvoll stilisierten oder trashig ausufernden Bildern und Sketches, die die Messtexte vom 'Kyrie Eleison bis zum 'Agnus Dei' allerdings nicht verdoppeln und aktualisieren, sondern sie assoziativ zerfasern, kontrapunktieren. Bewegung durchzieht alles: Vier Gesangsolisten und acht Chorsänger sind ständig unterwegs, sogar die drei Instrumente, zwei Klaviere (SooJin Anjou, David Zobel) und Harmonium (Jan Gerdes), werden auf der Bühne hin- und hergefahren. Keine Stabilität, alles fließt, selbst der agile britische Dirigent Nicholas Jenkins wechselt die Standorte und lässt sich öfters in die 'Handlung' ziehen. Zum Prinzip von Nico and the Navigators gehört ein Spiel, das von Improvisation durchzogen ist und in langen Übungen und Workshops trainiert und ausgearbeitet wurde. Die Sänger der Produktion wurden auf ihre performativen Fähigkeiten hin gecastet - Gesangsstimme, Rollenspiel und Individualität sind gleich wichtig. Das beginnt, ehe zum Kyrie zwei Klaviere auf die Bühne gleiten und Choristen sie wie zufällig bevölkern, mit lockerer Prosa: Immer wieder schieben sich zwischen Rossinis Messteile gesprochene Abschnitte, in denen vier pantomimische Hauptdarsteller quasi als Instanzen für Lebens- und Glaubenssituationen agieren: einer, den man als eine Art Priester, Psychiater oder Schamane identifiziert, ein Rationalist oder Wissenschaftler, ein heruntergekommener Mafioso und eine seraphische Engel-Figur in Rot, die mit Tanzpantomimen wundersam gelenkig wirbelnde Yui Kawaguchi. Sie alle variieren die Sinnbilder von der Gespaltenheit menschlicher Existenz, die Ambivalenz vor dem Abgrund der Gefühle. Es ist die choreographische Leichtigkeit in der Fülle der Rätselbilder, der aufblitzende Humor, die virtuose Groteske und der Nonsense spielerischer Aktionen, was die Produktion so zwingend kurzweilig, so spannungsvoll wie unterhaltsam macht. Und es ist Rossinis wie von selbst fließende, kunstvoll elegante, dabei scheinbar arglose Musik, die diese atemlos verstörende Sinnsuche in einem großen Bilderbogen rhythmisiert. Eine Philosophie in Bewegung, ein Tanz auf den Projektionsflächen des Agnostizismus, Imaginationen der Verstörung in perfektem Timing - die hohe Kunst von Nico and the Navigators. Beim 'Agnus Dei' zieht die Ariensängerin den Performer so lange am Ärmel, bis er willenlos scheint. Darsteller verrenken sich in wildem Rhythmus oder stürzen zu Boden, zwei Tänzer vereinen sich zum Kampf-Pas-de-deux. Das 'Amen' am Ende des Credo wird von einer einzelnen Sängerin so nervend in die Wiederholungsschleife geschoben, bis ihr einer das Schweigen mit Bargeld abkauft. Am Ende Ovationen. Die Produktion der Rossini-Navigation zieht im Herbst ins Berliner Radialsystem. Nächstes Jahr gastiert sie in Frankreich, Österreich und Luxemburg.
„Unterstützt von den vortrefflichen Pianisten David Zobel, Alevtina Sagitullina und Jan Gerdes am Harmonium hören wir eine von allen Beteiligten großartig gesungene ‚Petite Messe solonnelle‘. Im Falle des exzeptionellen Solosoprans Rebecca Gerdes sogar auf absolutem Weltklasseniveau … Auch die kroatische Mezzosopranistin Kora Pavelić, der serbischstämmige Tenor Miloš Bulajić und der weißrussische Bariton Nikolay Borchev überzeugen nicht nur stimmlich in der köstlichen Farce rund um die Ambivalenz menschlicher Gefühle. Sie alle vermessen das pralle Leben auf einen möglichen Zugang zu Glauben, Zweifel samt augenzwinkernder humoriger Ironie. Rossini schau oba! Die haben Deine grandiose Messe zwischen Wahrhaftigkeit und Geschmacksverirrung, luzider Spiritualität und pompösem Opernton verstanden. Gemeinsam mit einem typenstarken kleinen Chor, den Performern Yui Kawaguchi, Martin Clausen, Charles Adrian Gillot und Patric Schott folgen sie dem Pfad der Musik bis tief hinein in ihre Seelen. Mal Himmel und Hölle, mal Schuld und schlechtes Gewissen, spiegeln sie pantomimisch mit einem ausgetüftelten Bewegungskanon das stilistische Vielerlei der 1864 in der Privatkapelle des Pariser Adeligen Comte Michel-Frédéric Pillet-Will uraufgeführten Kirchenmusik.“
„Did you see the Pope, Benedikt? Yeah. Did the Pope see you? …“ Das Radialsystem Berlin in Friedrichshain hat die szenische Übersetzung von Rossinis Alterswerk „Petite Messe solonnelle“ als Koproduktion des Kunstfest Weimar und „Nico and the Navigators“ wieder ins Programm genommen. In der Halle eines historischen Abwasserpumpwerks in Berlin im Stil der märkischen Backsteingotik hat das Team rund um Regisseurin Nicola Hümpel (Bühne Oliver Proske, Kostüme Frauke Ritter) eine Art Halfpipe auf die sonst leere Bühne gehievt. Darin tummelt sich eine Horde zappeliger Großstadtfreaks auf der Suche nach ihrem Gott, getrieben, zwänglich, Unsinn quatschend, sich selbst mit ihrer pubertären Bedingtheit ins Chaos zwischen weißen Rosen und Geldbüscheln manövrierend. Aber was die jungen Leute da wirklich können und was sie dem Eigentlichen näher bringt, das ist Musik machen. Unterstützt von den vortrefflichen Pianisten David Zobel, Alevtina Sagitullina und Jan Gerdes am Harmonium hören wir eine von allen Beteiligten großartig gesungene „Petite Messe solonnelle“. Im Falle des exzeptionellen Solosoprans Rebecca Gerdes sogar auf absolutem Weltklasseniveau. Wie diese Künstlerin in ihrem blauen Schimmerdress Verzierungen delikat gurrt, Akuti säulengleich in den Raum setzt, mit Rhythmen und Worten experimentiert, ihr glasklar perfekt in der Maske sitzendes Edelinstrument in dieser singschauspielerischen Aktion wie Lichtsterne in den Raum projiziert, ist ereignishaft. Aber auch die kroatische Mezzosopranistin Kora Pavelić, der serbischstämmige Tenor Miloš Bulajić und der weissrussische Bariton Nikolay Borchev überzeugen nicht nur stimmlich in der köstlichen Farce rund um die Ambivalenz menschlicher Gefühle. Sie alle vermessen das pralle Leben auf einen möglichen Zugang zu Glauben, Zweifel samt augenzwinkernder humoriger Ironie. Rossini schau oba! Die haben Deine grandiose Messe zwischen Wahrhaftigkeit und Geschmacksverirrung, luzider Spiritualität und pompösem Opernton verstanden. Gemeinsam mit einem typenstarken kleinen Chor, den Performern Yui Kawaguchi, Martin Clausen, Charles Adrian Gillot und Patric Schott folgen sie dem Pfad der Musik bis tief hinein in ihre Seelen. Mal Himmel und Hölle, mal Schuld und schlechtes Gewissen, spiegeln sie pantomimisch mit einem ausgetüftelten Bewegungskanon das stilistische Vielerlei der 1864 in der Privatkapelle des Pariser Adeligen Comte Michel-Frédéric Pillet-Will uraufgeführten Kirchenmusik. Allerdings wird in der Produktion zuviel gesprochen. Und zwar von einem englischsprachigen, in mönchische Braunkutte und orangefarbene Sonnenbrille gewandeten Guru, der dem schnöseligen Wahrheitssucher im cremehellen Anzug und Rollkragenpulli gar „Gescheites“ mit auf den Weg geben will, in der poetischsten Szene des Stücks aber grandios scheitert. Da lösen die beiden jungen Leute geschwungene Stufen aus einer Sitzpyramide und vollführen Schaukelig-Akrobatisches. Hier erweist sich denn der Schüler als der Meister. Die Musik unter der wissenden Leitung des ebenfalls auf der Bühne herum irrlichternden Dirigenten Nicholas Jenkins ist so stark und gewichtig (und übertraf in der Wirkung alle CD-Aufnahmen, die ich kenne), dass die szenische Unübersichtlichkeit zwar oft zum Lachen reizt, bisweilen jedoch in den rein dialogisierenden Passagen über gut gemeinten Slapstick nicht hinausreicht. Der Zuseher braucht gar nicht erst zu versuchen, das hippelige Treiben auf der Bühne in logischen Assoziationsketten zu ordnen. Es tut seine Wirkung, vernachlässigt aber final doch die spirituelle Seite, das zart Lyrisch-Poetische. Des Öfteren habe ich mich gefragt, welche Theaterbilder wohl Ariane Mnouchkine aus Rossinis handfest lebensbejahender und dennoch engelseliger Musik destilliert hätte? Dennoch ist es insgesamt ein anregender, unterhaltsamer typisch Berliner Abend geworden. Das alte philosophische Prinzip „Prima la musica e poi le parole“ wurde durch diese Produktion jedenfalls nicht ausgehebelt. Es lebe der Maestro der komischen Oper, Gourmet, Frühpensionist, dieserFarceur und Schelm in allen Gassen Rossini!
„Mit fantasiereicher Bildersprache interpretierten sie die außergewöhnliche Messkomposition von Gioachino Rossini und stellten mit spielerischem musikalischen Zugang assoziationsreich religionsphilosophische Fragen in den Raum…“
Nico and the Navigators interpretierten Gioachino Rossinis „Petite messe solennelle“ fantasie- und geistreich Nico and the Navigators, die erfolgreiche und originelle Musiktheatertruppe rund um Nicola Hümpel, gastierte mit Rossinis „Petite messe solennelle“ bei den Bregenzer Festspielen. Im Rahmen der Performance interpretierten SängerInnen, MusikerInnen, Darsteller sowie eine Tänzerin mit einer fantasiereichen Bildersprache die außergewöhnliche Messkomposition von Gioachino Rossini. Assoziationsreich und mit einem spielerischen musikalischen Zugang wurden religionsphilosophische Fragen in den Raum gestellt, die vielfältige individuelle Deutungsmuster zuließen. Bewundernswert agierten die zwölf ChorsängerInnen, die nicht nur gesanglich, sondern auch darstellerisch ihre große Meisterschaft unter Beweis stellten. Gioachino Rossini setzte sich mit seinem Alterswerk, der „Petite messe solennelle“ ein Denkmal, das ihn auch als Künstler mit einem ausgeprägten Sinn für Selbstironie und Humor auszeichnete. Gleichzeitig strahlt diese ungewöhnliche Messkomposition eine heitere Ernsthaftigkeit aus, die ihresgleichen sucht. Diese kompositorischen Eigenschaften machte sich die Berliner Musiktheatergruppe „Nico and the Navigators“ für ihre individuelle Interpretation dieser „kleinen festlichen Messe“ zunutze. Hervorragende SängerInnen Vor allem die zwölf SängerInnen unter der Leitung von Nicholas Jenkins beeindruckten mit ihrer musikalischen Darstellungskraft. Als SolistInnen waren Laura Mitchell, Sopran; Ulrike Mayer, Mezzosopran; Milos Bulajic, Tenor und Pauls Putnins, Bass zu hören. Trotz einer vielschichtig angelegten Choreografie und unzähligen darstellerischen Hinweisen wirkten sie locker und souverän. Humorvoll, teilweise mit fast zu übersteigerter Doppeldeutigkeit, erklangen die musikalisch anspruchsvollen Messteile, besondere Beachtung fanden dabei die kontrapunktischen Stimmführungen. Ausgefallene Instrumentierung Die „Petite messe solennelle“ ist für zwei Klaviere und Harmonien gesetzt und in dieser Besetzung präsentierten auch „Nico and the Navigators“ das Werk. So blieben die SängerInnen und MuskerInnen sehr nahe an der Originalversion und erreichten damit eine ausgeprägte Stringenz. Gut gelöst wurde die Positionierung der Instrumente, die auf rollenden Tableaus variabel auf der Bühne positioniert werden konnten. SooJin Anjou und David Zobel an den Klavieren sowie Jan Gerdes am Harmonium musizierten im Dienste der ChorsängerInnen und hoch konzentriert. Ironische Gesellschaftskritik Um die Messkomposition in eine Musiktheaterperformance zu übersetzten, führte die Regisseurin und Ensembleleiterin Nicola Hümpel drei Protagonisten und eine Tänzerin ein. In skurrilen, witzigen und sarkastischen Dialogen thematisierten Peter Fasching, Adrian Gillot und Patric Schott eine Sinnsuche. Unter anderem wurden religiöse Vertreter als Verführer und Menschen erlebbar, die zwar davon sprechen, zuhören zu wollen, jedoch am meisten mit sich selbst beschäftigt sind. Bestechlich waren alle Protagonisten auf ihre Weise und in unterschiedlichen Zusammenhängen. Eine abstruse Esoterik und der Wellnessboom sowie die Sehnsucht nach der Idylle auf dem Land wurden als Religionsersatz präsentiert. Ein schlichtes, aber äußerst raffiniertes Bühnenbild und ein Tribünenaufbau, der zahlreiche überraschende Benutzungselemente in sich barg, bereicherten die Aufführung. Tänzerin der Extraklasse Die Tänzerin Yui Kawaguchi war eine Klasse für sich. Ihre tänzerischen Beiträge wirkten ganz von der Musik inspiriert, durchzogen von einer mitreißenden humoristischen Ader und einer akrobatischen Leichtigkeit, die die Aufführung maßgeblich bereicherte. Gedanken zur Ausrichtung von KAZ „Nico and the Navigators“ gastierten im Rahmen der Schiene „Kunst aus der Zeit“ der Bregenzer Festspiele. Sie boten tiefgründige Unterhaltung auf höchstem Niveau und fanden auf der Werkstattbühne viel Zustimmung. Allerdings erscheint mir diese Performance im Rahmen der „Kunst aus der Zeit“ (KAZ) nicht passend platziert. Bekanntlich wurde dieses „dritte Standbein“ der Festspiele in diesem Jahr massiv gekürzt, lediglich drei Veranstaltungen finden im Rahmen der KAZ statt. Es ist symptomatisch, dass genau die avancierten Kunstformen den Sparprogrammen zum Opfer gefallen sind. Unmittelbar nach der Festivalsaison 2011 wurde Laura Berman, die künstlerische Leiterin der Kunst aus der Zeit – salopp gesagt – „ruhiggestellt“. Von der Programmschiene „Kunst aus der Zeit“ erwarte ich mir Musik und Musiktheaterformen, die wirklich auf der Höhe unserer Zeit stehen, die nicht rückwärtsgewandt in die Zukunft weisen, sondern tatsächlich zukunftsweisend wirken.
„berückende Szenen, die einem das Lächeln aufs Gesicht zaubern. Rossini hätte an diesem Abend bestimmt seine helle Freude gehabt…“
Begeisternd, voll feinem Humor und auch verstörend: Nico and the Navigators in Bregenz. Schon Gioachino Rossini würzte seine "Petie Messe solennelle" mit Humor, der in einem "Brief an Gott" zum Ausdruck kommt. Aber auch der Titel "Kleine feierliche Messe" ist eine augenzwinkernde Untertreibung, entspricht die Komposition doch mit ihren eineinhalb Stunden Dauer und zahlreichen Zwischenmusiken einer ausgewachsenen ,,Missa solemnis". Ein Werk also, das so recht dazu angetan ist, von der sprudelnden Fantasie und dem zauberhaften Humor der Berliner Truppe "Nico and the Navigators" übergossen zu werden. Zu erleben war ihre Rossini-lnszenierung am Mittwoch- und Donnerstagabend in der Werkstattbühne des Festspielhauses im Rahmen der Kunst-aus-Zeit-Schiene der Bregenzer Festspiele. Dass hier nicht eins zu eins die katholischen Glaubensinhalte visualisiert werden, liegt auf der Hand. Vielmehr sehen und hören wir ein Musiktheater, das mit mannigfachen Themen des prallen Lebens spielt. Liebe und Hass, Vertrauen und Missgunst, Offenheit und Lüge, Mitgefühl und Arroganz, das und noch vielmehr kommt in Tanz, Gesang und auf zwei Klavieren und Harmonium - diese Instrumente sind von Rossini original besetzt- zum Schwingen. Ungläubiger Benedikt Doch die spirituellen Fragen werden keineswegs unter den Teppich gekehrt. Eine Art Mönch, der sich weise und erleuchtet gibt, tritt immer wieder in einen Diskurs mit einem Nicht-Glaubenden ein, der pikanterweise Benedikt heißt. Bestimmt hat keiner von beiden die Wahrheit, vielleicht aber schwingt ein Quäntchen von einer solchen mit in den vielen berückenden Szenen, die einem das Lächeln aufs Gesicht zaubern. Da tanzt die atemberaubende Tänzerin Yui Kawaguchi mit dem kleinen und ein weinig rundlieben Tenor ein veritables Pas de deux. Ein Bauer erzählt in knorrigem Englisch von einem mystischen Erlebnis, das ihm die Träne aus dem Auge seiner Lieblingskuh beschert hat. Die große Bassarie "Domine Deus" aus dem "Gloria" wird durchsetzt mit einer zwerchfellerschütternden Szene unter Männern, wie sie sich vielleicht nachts in einer Bar zuträgt. Oder es spielen der Mönch und Benedikt auf Wippen und der Letztgenannte gerät dabei ins Strudeln, was dem Darsteller allerhand Akrobatik abverlangt. "Nico", das ist die Regisseurin Nicola Hümpel, die sich zusammen mit den Darstellern und Darstellerinnen und ihrem Leitungsteam all das ausgedacht hat und die nun zum dritten Mal bei den Bregenzer Festspielen zu Gast war. Hervorragend ist diesmal auch der musikalische Teil gelungen. Unter dem in die Szene eingebunden Dirigat von Nicholas Jenkins klangen die zwölf Sängerinnen und Sänger, die beiden Klaviere und das Harmonium fabelhaft. Stürmischer Applaus. Rossini hätte an diesem Abend bestimmt seine helle Freude gehabt.
„Regisseurin Nicola Hümpel hat auch im dritten Jahr ihrer Teilnahme an den Bregenzer Festspielen mit einer wahren Flut packender Bilder für ein strahlendes Highlight gesorgt…“
Nach zwei Stunden Gesangs- und Bewegungs-Performance auf der Werkstattbühne gab es am Mittwoch viel Beifall für alle Mitwirkenden. Die Berliner Theatergruppe fragte nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Glaubens in unserer Zeit und hielt sich dabei eng an die Urfassung der Messe, die Rossini für zwei Klaviere und Harmonium sowie zwölf Stimmen komponiert hatte. Allerdings agierten diese zwölf Sänger keineswegs wie die zwölf Apostel. Mit schiefen Gesichtern zählen sie Geld während des Credo. Im „Resurrexit“ erfolgt die Auferstehung in der Art einer Flughafenkontrolle. Zweifel am Glauben äußert auch ein weiß gekleideter junger Mann, der ausgerechnet Benedikt heißt. Die Antwort auf seine Glaubensfragen ist meist ein Witz, tänzerisch wie gesanglich atemberaubend artikuliert , wobei sich die hilflose Suche nach dem Glauben auf allerlei Esoterisches ausdehnt. Regisseurin Nicola Hümpel hat auch im dritten Jahr ihrer Teilnahme an den Bregenzer Festspielen mit einer wahren Flut packender Bilder für ein strahlendes Highlight gesorgt.
„Diesmal haben sich Nico and the Navigators in ihrer Neubewertung von bedeutenden Musikwerken der Vergangenheit an Gioachino Rossinis ‚Petite messe solennelle‘ gewagt und damit mehr als einen veritablen Wurf gelandet. Der Abend besticht mit sängerischer Delikatesse des gesamten Ensembles und einem so witzigen wie nachdenklichen Plädoyer für Menschlichkeit…“
An einem Abend so viele Geschichten zu erzählen, wie Gäste im Publikum sitzen, umschreiben Nico and the Navigators das Ziel ihrer Produktionen. Darauf läuft es wohl auch bei der neuesten Arbeit des seit 1998 bestehenden Kollektivs um die Regisseurin Nicola Hümpel und den Bühnenbildner Oliver Proske hinaus. Diesmal haben sie sich in ihrer Neubewertung von bedeutenden Musikwerken der Vergangenheit an Gioachino Rossinis „Petite messe solennelle“ gewagt und damit mehr als einen veritablen Wurf gelandet. Thema des knapp zweistündigen Bildertheaters ist Religiosität in unserer Zeit: Können wir nach all dem Übel der Welt und in der Phase eines höchst rigiden Spätkapitalismus den naiven Worten des Messetextes noch trauen, ihnen gar glauben? Selbst Rossini, eher Spötter denn Salbader, sind 1863, nach Fertigstellung des Auftragsopus, Zweifel gekommen. Bittet er doch in einem seiner Briefe an Gott um Vergebung für jene abwiegelnd petite, klein, genannte Messe: Er sei nicht sicher, ob sie heilige oder nicht doch nur vermaledeite, Opernpathos nahe Musik enthalte. Instrumentiert hat Rossini sie für zwei Klaviere und Harmonium, mit einem Chor aus zwölf Sängern analog den Aposteln beim Abendmahl, gewissermaßen als musikalisches „Fressgelage“. Jener Abstand des Komponisten zum eigenen OEuvre kommt Nico und Co. entgegen. Zwar hält sich die Regie konsequent an jene erste Fassung, addiert jedoch einen Countertenor, eine Tänzerin sowie Schauspieler, die aussprechen, was der Musik latent innewohnt, mehr noch Zuhörer von heute bewegt. So entsteht eine das Werk überwölbende Gesamtkonstruktion voller Fragen, Verunsicherungen und Zweifel. Einen in sich verdrehten weißen Bogen wölbt auch Proske über die Szene im Radialsystem, dem er eine raffiniert nutzbare Treppe unterschiebt. Zuspitzung bereits am Anfang. Da redet ein Mann im hellen Anzug auf einen barfüßigen Büßer mit Kapuze ein, will wissen, was hinter der Tür sei und ob sie sich öffne. Wer Antworten will, muss erst zuhören, entgegnet knapp die Kapuze. Die Flügel fahren auf, Passanten kommen, packen den Hellen, das Kyrie setzt ein, und auch eine Tänzerin in Rot, der Teufel möglicherweise, mischt sich unter. Die lauscht eigener Musik, wem sie die Kopfhörer leiht, gerät in Verzückung. Der erste Bruch. Lauter Gläubige auf einem Kissen, da sitzt der Teufel dazwischen, lacht einer den hehren Spuk weg und zermalmt gespendete Blumen. Wieder philosophiert der Helle, es gebe nachweislich bloß zehn Dimensionen, da wirds eng für Gott, sich zu verstecken. Beim Domine Deus fängt der Teufel leiernd die Worte des Tenors auf, zermahlt sie im Mörser, trinkt genüsslich den Wortsud. Sopran und Alt eignen sich im Qui tollis den Mantel des Dirigenten an, verschmelzen dahinter zum Doppelwesen. Streichelt der Bassist einen Menschen, wischt er sich danach die Hand ab; die Inbrunst im Gesang über Jesus attackieren die Spieler, seine Hände führt der Teufel zum Gebet: Zwiespalt auch hier. Ein Akteur geißelt sich, wird zum Amen getränkt; der Teufel lockt mit hölzernen Händen; der Dirigent berauscht sich hohl auf einem Drehsessel. Es kommt noch schlimmer. Der Büßer im Beichtstuhl gesteht dem Hellen, der plötzlich Benedikt heißt, er nehme Liebe, wo er sie finde, wolle keinesfalls lehren; Benedikt aber bezieht Wissen nur aus Büchern, tobt wider einen Sintflut-Kapitalismus. Beim Crucifixus wird der Sopran mit dem Rosenkranz stranguliert, der Teufelin platzt ihre Ballon-Schwangerschaft. Stufen der Treppe werden zu „Sicheln“, in denen Büßer und Benedikt im Wettbewerb schaukeln, schieben sich vor dem Credo dann zum Tor zusammen, durch das jeder wie beim Sicherheitscheck muss; einer besteht nicht, landet im Gefängnis. Während des Chorus befummeln sich welche, das Amen zerfasert, eine ekstatisch Knicksende wird mit Geld entgolten. Als ob alle Fragen Antworten hätten, räsoniert der Büßer; doch Benedikt wittert zwischen den Galaxien das Nichts. Da öffnet der Teufel wirklich eine riesige Klapptür, Nebel quillt, die Sopranistin singt wie eine mechanische Puppe, kippt kurz ab. Jeden dirigiert der Teufel in den rechten Nebelgang. Den Büßer erwischts: Er liebe die Menschen nicht, habe gelogen, fragt, ob Benedikt einer Schwangeren im Bus den Platz anbieten würde. Dem verschlägt es nicht nur die Sprache; zum Agnus Dei erkennt man ihn als Schuldigen an allem Leid, wirft ihn zu Boden. „If you have any question“ ruft ihm der Büßer oben aus dem Saal zu. Mit diesem eindringlichen Bild endet auch verschmitzt der Parcours durch die Rossini-Messe und den Religions-Diskurs. Wie erwartet unentschieden. Auch das macht den Abend so anregend. Daneben besticht er mit sängerischer Delikatesse des gesamten Ensembles und so witzigem wie nachdenklichem Plädoyer für Menschlichkeit.
„zwischen Glaube und Zweifel: leichtfüßig, phantasievoll, amüsant – und damit in bester Nachfolge Rossinis. Ein überschäumendes Gesamtkunstwerk zwischen ‚heilig‘ und ‚verflucht‘ und damit ein Welttheater unterhaltsamster und anregendster Art…“
Nico and the Navigators interpretieren Rossini. So recht wusste Gioachino Rossini wohl selbst nicht, was er von seiner „petite messe solennelle“ halten sollte. Ist das nun „heilige“ oder doch eher „verfluchte“ Musik, fragte er sich nach der Beendigung der Komposition – dabei lustig mit der Doppelbedeutung des französischen Wortes „sacré“ spielend. Allein dass Rossini sich diese Frage in einem treuherzig formulierten Brief an Gott stellt, lässt vermuten, dass er sein Werk so heilig nicht fand. Er sei eben ein Mann der „opera buffa“ entschuldigt er sich beim „lieben Gott“ und fügt dann listig an: „Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies“. Eine solchermaßen kecke Forderung wäre einem Anton Bruckner wohl nie über die Lippen gekommen. Es spricht eine bemerkenswerte Angstfreiheit in religiösen Dingen aus Rossinis unverstellten Worten. Im Entstehungsjahr der Messe, 1863, war die katholische Welt schließlich noch weitgehend in Takt. Dieser Angstfreiheit – und dem heiteren Naturell des Komponisten – ist zu verdanken, dass man es bei Rossinis „kleiner“ Messe mit einer ungewöhnlich beschwingten Sakral-Komposition zu tun hat. Das „Cruzifixus“ im „Credo“, wo die Komponisten gewöhnlich auf sinnenfrohe Musikalität verzichten, walzert bei Rossini fast schon ketzerisch vor sich hin, und auch das „Kyrie“ zu Beginn klingt in der Begleitung eher keck als erbarmungsbedürftig. Seltsam bedeutungsvoll und hintergründig Es sind diese Ungereimtheiten, die das komponierte Glaubensbekenntnis gleichzeitig wieder relativieren und die die „petite messe“ so offen für Interpretationen machen. Das Ensemble Nico and the Navigators jedenfalls nutzte diese Offenheit am Mittwochabend im Radialsystem für eine generelle Betrachtung über Glauben und Zweifel: leichtfüßig, phantasievoll, amüsant – und damit in bester Nachfolge Rossinis. Gezeigt wird eine Art Gesamtkunstwerk aus Tanz, Pantomime, Schauspiel und musikalischer Aufführung, das seltsamerweise nie überladen wirkt, obwohl auf der Bühne ziemlich viel passiert (Regie: Nicola Hümpel). In braun-bunter Sechzigerjahre-Kleidung kostümiert, verteilen sich die zwölf Sänger auf der Szene und bilden abwechselnd Wimmelbilder: hier kaut gerade jemand auf einer Rosenblüte herum, da streicht einer dem Vordermann über den Kopf, hier tanzt jemand zur Musik, da steht einer stocksteif am Rand und bewegt stumm den Mund. Das muss man, kann man nicht alles verstehen, und doch wirkt es seltsam bedeutungsvoll und hintergründig. Nur ausnahmsweise greift die Bildsprache der Navigatoren auf klar entzifferbare und dann schnell platte Symbolik zurück, etwa wenn zu Beginn des „Credo“ vor allem Mammon gehuldigt wird, indem fortwährend mit Geldscheinen gewedelt wird oder sich einer der Darsteller mit seiner Anzugjacke selbst geißelt. Verstand und Spiritualität Zusammengehalten wird der Bilderreigen durch eine dezent hinzugefügte Rahmenhandlung. Zwei Gott-Sucher tauchen immer wieder zwischen den einzelnen Abschnitten der Messe auf und fechten den Streit zwischen kühlem Verstand und Spiritualität aus. Letztere, dargestellt in der Person eines weihevoll säuselnden Mönchs (Adrian Gillot), geht am Ende an der zwanghaften Selbstkasteiung zugrunde („Ich habe gestern Abend Schokolade gegessen. Oh Gott, ich bin ein schlechter Mensch“). Andererseits wird der pedantisch-verdruckste Verstandesmensch Benedikt (Peter Fasching) am Ende des Abends ebenfalls nicht wesentlich weiter gekommen sein. Es gibt niemanden auf der Bühne, der an diesem Abend nicht spielt: Auch der Dirigent (Nicholas Jenkins) gibt sich als Schauspieler und leitet die Musik mit pantomimischer Dramatisierung gleichsam aus dem Stück heraus. Das geht trotz der Betriebsamkeit auf der Bühne erstaunlich gut, wobei dem Dirigenten auch die zwölf exzellenten, hellwachen Sänger helfen. Es entsteht ein überschäumendes Gesamtkunstwerk zwischen „heilig“ und „verflucht“ und damit ein Welttheater unterhaltsamster und anregendster Art.
„Rossinis Glaube spiegelt sich im exzellent choreografierten Chor und in den brünstigen Sätzen Kyrie, Gloria, Credo und O salutaris hostia, begleitet von zwei Klavieren und einem Harmonium, inbrünstig dirigiert von Nicholas Jenkins… Das ist frech, vor allem: körperlich. Nichts ist unfassbarer als der Teufel, den Yui Kawaguchi als Kobold von unglaublicher Beweglichkeit verkörpert. Ihr hält – die Überraschung – der Countertenor Philipp Caspari tänzerisch so tapfer stand, als fiele nicht nur die Allmacht Gottes, sondern auch die der Oper.“
34 Jahre lebte der Opernkomponist Gioachino Rossini von einer stattlichen Rente aus seinem Vertrag mit dem französischen König. Abgesetzt von Liberalen des 19. Jahrhunderts, die Rossini viel Zeit gaben, das Geld für Trüffel auszugeben und, glaubt man den Brüdern Goncourt, «junge Mädchen dazu zu bringen, sich bis zur Taille auszuziehen und ihn seine Hände lüstern über ihren Oberkörper streifen zu lassen, und dabei ließ er sie an seinem kleinen Finger lutschen». Ein Sünder, der hundert «Péchés de vieillesse» komponierte, darunter die bekannteste «Alterssünde», die «Petite messe solennelle», mit denkwürdiger Widmung: «Lieber Gott, habe ich wirklich geistliche Musik geschrieben oder nur dummes Zeug wie sonst auch? Du weißt sehr wohl, dass ich für die Opera buffa geschaffen bin. Das verlangt keine großen Fähigkeiten, dazu reicht im Grunde ein bisschen Gefühl. Also, Ehre sei Gott, und bitte lass mich ins Paradies kommen.» «So mag ein religiöser Mensch wie der zum Kind werden», denkt der Schriftsteller Julian Barnes. Die choreografierende Regisseurin Nicola Hümpel denkt: Er ist noch heute da, der Kinderglaube vom guten Leben, selbst wenn Gott darin keine besondere Rolle spielt. Ihr Bühnenbildner Oliver Proske fragt: Wie sieht es aus, das Paradies? In Erfurt zum Kunstfest «pèlerinages» überragt die Bühne eine Wolkenbrücke. Darunter lässt sich für den apostolischen Chor aus zwölf Sängern eine fahrbare Tribüne so auseinandernehmen, dass ein orientalisches Tor entsteht, das an eine Sicherheitsschleuse am Flughafen erinnert. Noch da oben hat man Angst vor Attentätern. Ein orientalisches Tor ist rund. Legt man dessen Hälften auf den Boden, entstehen zwei Wippen. Auf denen schaukeln Gott und sein Zweifler, ein gewisser Benedikt (wie der Papst) sich in den Witz hinein. Wer zum Teufel ist Gott? Der Teufel ist eine Tänzerin, Yui Kawaguchi. Gott dagegen liebt das Lieben. Sein Gegenspieler zweifelt: «Woher soll Gott nur die geringste Ahnung von Liebe haben?» Single ist er, nicht mal geschieden. Also schlägt Yui Kawaguchi die chinesische Klangschale, bis die Kirche leer ist. Rossinis Glaube spiegelt sich im exzellent choreografierten Chor und in den brünstigen Sätzen Kyrie, Gloria, Credo und O salutaris hostia, begleitet von zwei Klavieren und einem Harmonium, inbrünstig dirigiert von Nicholas Jenkins. Das ist frech, vor allem: körperlich. Nichts ist unfassbarer als der Teufel, den Yui Kawaguchi als Kobold von unglaublicher Beweglichkeit verkörpert. Ihr hält – die Überraschung – der Countertenor Philipp Caspari tänzerisch so tapfer stand, als fiele nicht nur die Allmacht Gottes, sondern auch die der Oper. Für Nicola Hümpel, wie für Sasha Waltz oder Heike Hennig, gibt es kein Verbot, demzufolge ein Oratorium nicht getanzt werden dürfe. Der Körper, von Kirchen geächtet, von Rossini bis zur Depression erlitten, feiert den «betrunkenen Bach», um den Aberglauben vom Seelischen, der Stimme, zum Teufel zu schicken. Zum Tanz.
„Ihre vielschichtige Annäherung an Gioachino Rossini und seine ‚Petite Messe Solennelle‘ schlug das Publikum an zwei Abenden auf der Werkstattbühne in Bann…“
Dass Sänger heute in allen Lebenslagen singen, spielen und tanzen können, ist man gewohnt. Dass aber eine Pianistin selbst dann weiterspielt, wenn ihr ein Schauspieler die Haare zerwühlt, und dass sich ein Dirigent gleichfalls als leidenschaftlicher Schauspieler entpuppt, ist denn doch ungewöhnlich. Bereits zum dritten Mal ist die Berliner Truppe Nico and the Navigators im Rahmen von Kunst aus der Zeit (KAZ) zu Gast bei den Bregenzer Festspielen. Ihre vielschichtige Annäherung an Gioachino Rossini und seine „Petite Messe Solennelle“ schlug das Publikum an zwei Abenden auf der Werkstattbühne in Bann. Da gibt es einen sanft säuselnden Mann im braunen Kapuzenmantel mit buddhistisch angehauchten Empfehlungen und einen spöttischen Zweifler namens Benedikt - sie reden in einem skurrilen englisch-deutschen Dialog aneinander vorbei. Da gibt es vielerlei Anspielungen, Bildzitate und Querverweisungen, etwa wenn die Tänzerin Yui Kawaguchi mit ihrer begnadeten Körpersprache zwei geschnizte „betende Hände“ wie Engelsflügel wippen lässt. Ein variabel eingesetztes Bühnenbildteil, bald Chorpodium, bald Altar, Gefängnis oder Beichtstuhl, lässt sich zerlegen zur Psychocouch oder zur Balancierwippe. Zwölf spielfreudige Sängerinnen und Sänger vereinen sich zu einem homogonen Chor, aus dem die Solostimmen (Laura Mitchell, Ulrike Mayer, Milos Bulajic und Pauls Putnins) hervortreten.
„eine berührende Aufführung zwischen mystischer Inbrunst und agnostischer Skepsis…“
Rossinis “Petite messe solennelle” inspirierte die Berliner Theatergruppe bei ihrem dritten Bregenzer Gastspiel (nach 2006 und 2009) zu einer berührenden Aufführung zwischen mystischer Inbrunst und agnostischer Skepsis auslotete. Nach zwei Stunden berührender Gesangs- und Bewegungs-Performance auf der Werkstattbühne gab es viel Beifall für alle Mitwirkenden. Rossini: “letzte Todsünde meines Alters” Gioachino Rossini (1792-1868) hat die 1864 in Paris uraufgeführte Messe als “letzte Todsünde meines Alters” für zwölf Singstimmen, Harmonium und zwei Klaviere geschrieben und erst 1867 orchestriert. Mit dem Spätwerk ist er zum letzten Mal öffentlich als Komponist in Erscheinung getreten. In seiner Widmung hat Rossini den “Lieben Gott” fast augenzwinkernd und wortspielerisch gefragt, ob das wirklich heilige Musik (musique sacrée) oder vermaledeite Musik (sacrée musique) sei: “Ich bin für die Opera buffa geboren, wie du genau weißt. Ein wenig Geschick, ein wenig Herz, das ist alles. Sei also gesegnet und gewähre mir den Einzug ins Paradies. “Das Regie-Konzept von Nicola Hümpel legt die tänzerische Umsetzung der Messe gewissermaßen aus der Perspektive eines faustischen Zweiflers und Agnostikers an. Ob religiöse bzw. nichtreligiöse Grundhaltung, spielte für die Rezeption der gleichermaßen ernsthaften wie heiteren, insgesamt auf alle Fälle sehr eindrucksvollen Performance keine Rolle. Ohne direkten liturgischen Bezug war in dieser “Petite messe solennelle” alles in Bewegung, spirituelle wie im wortwörtlichen Sinn – die Bühne (Oliver Proske), die Sänger, die Tänzer, der Dirigent (Nicholas Jenkins), die zwei Klaviere und das Harmonium.
„Ironisch kann jeder. Diesem Ensemble aber gelingt es, Heiterkeit aus Rossinis Petite Messe Solennelle klingen zu lassen, ohne deren Geistlichkeit zu verleugnen und tatsächlich ein Stück Musik zu verlebendigen,dem bislang wohl höchstens das unauffällige Ende in ganz gewöhnlichen Chorkonzerten bevorstand.“
Poetisch, denkt man, wenn es um die Petite Messe Solennelle von Rossini geht, die „Nico and the Navigators“ im Radialsystem zeigen. Ein geistliches Werk, das Nicola Hümpel und Oliver Proske in einen Abend mit Musik, Tanz und kaum Handlung verwandelt haben, der beim Weimarer Kunstfest Premiere feierte. Zwei Flügel, die auf lautlos rollenden Podesten einfahren, ersetzen gemeinsam mit dem Harmonium das Orchester. Die 20 Mitwirkenden sind in Preußischblau, Rostrot oder Herbstdunkel gekleidet (Kostüme: Frauke Ritter); sie laufen, stehen, hampeln und berühren sich. Unter dem Dirigat von Nicholas Jenkins, der ebenso Takt gibt wie er sich schwärmerisch mitbewegt, singen die meisten von ihnen aber auch, und dies sehr schön (besonders der Bassist Nikolay Borchev und die Mezzosopranistin Ulrike Mayer). Yui Kawaguchi dagegen tanzt, ein rotkapuziger Puck mit messerscharf in die Horizontale ausfahrenden Armen und Beinen. Und Adrian Gillott in schwarzer Büßersoutane unterhält sich mit Peter Fasching, natürlich über Gott und die Welt. Wenn dieser Gillott dann beim Agnus Dei in weißer Wäsche und vor hell ausgenebeltem Hintergrund wieder erscheint, dann mischen sich in dieser Inszenierung Jugend, großer Ernst und Leichtigkeit auf eine fast rührende Weise. Ironisch kann jeder. Diesem Ensemble aber gelingt es, Heiterkeit aus Rossinis Petite Messe Solennelle klingen zu lassen, ohne deren Geistlichkeit zu verleugnen, das Bild eines Komponisten zu zeichnen, der in das neue Werk „all mein kleines musikalisches Wissen gelegt und mit wahrer Liebe zur Religion gearbeitet“ hatte, tatsächlich ein Stück Musik zu verlebendigen, dem bislang wohl höchstens das unauffällige Ende in ganz gewöhnlichen Chorkonzerten bevorstand.
„Nach ‚Cantatatanz‘ bei den Bachwochen beschenken Nico & the Navigators ihre rapide wachsende Thüringer Fan-Gemeinde zum zweiten Mal mit einer Uraufführung in Erfurt. In einem oratorischen Bildertheater nimmt die Kult-Truppe aus Berlin sich nun der Petite Messe Solennelle Gioacchino Rossinis an – eines Spätwerks mit spartanischer Besetzung und reichhaltigem Potenzial für ironische Brechungen.“
Nach "Cantatatanz" bei den Bachwochen beschenken Nico & the Navigators ihre rapide wachsende Thüringer Fan-Gemeinde zum zweiten Mal mit einer Uraufführung. In einem oratorischen Bildertheater nimmt die Kult-Truppe aus Berlin sich nun der Petite Messe Solennelle Gioacchino Rossinis an - eines Spätwerks mit spartanischer Besetzung und reichhaltigem Potenzial für ironische Brechungen. Das Stück entsteht als Koproduktion des Kunstfests Weimar, der Bregenzer Festspiele sowie der Theater Erfurt und Luxemburg. Wir sprachen mit Nicola Hümpel. Wieso nennen Sie Ihre Darsteller eigentlich "Navigatoren"? Weil sie ihre Figuren auf dem Wege der Improvisation entwickeln und somit das künstlerische Ergebnis maßgeblich mitbestimmen. Das Stück entsteht aus gemeinsamer Arbeit; eine Fülle von Ideen und einzelnen Szenen entwickelt sich langsam collagenartig zu einem Ganzen. Dafür wird lange gearbeitet - zwölf Wochen. Eine kanonische Messe gibt aber keine dramatische Vorlage, sie hat keine Handlung. Nicht? Na gut. Heutzutage haben die wenigsten von uns noch einen wahrhaftigen Bezug zur Religion. Der Prozess, der uns Demut und Dankbarkeit gegenüber Gott lehrt und aus dem wir geläutert hervorgehen sollen, wäre als Handlung durchaus zu verstehen. Aber Sie haben recht, wer geht da heutzutage schon noch mit. Selbst Rossini hat sich, so unser Eindruck, damit schwergetan und ironisiert sein eigenes Unterfangen nur zu oft - hörbar. Sie haben sich mit dem Kerl intensiv befasst. Er schreibt eine Widmung: "Lieber Gott, ich bin zur Opera Buffa geboren, das weißt Du. Sei also gnädig und gewähre mir das Paradies." Ist es nun Messe oder Buffa? Wir haben es als Werk eines Agnostikers aufgefasst das die großen Existenzfragen stellt und zeigt, dass der Mensch neben seiner "Lebenszeitverwaltung" immer nach etwas Höherem strebt. Wie können wir das Leben ertragen, wenn wir nicht Gott, nicht Tier sind? Auf diese Frage antwortet Nietzsche: "Man muss Philosoph sein." Man spürt in dieser Musik eine ständige Ambivalenz: Mit großer italienischer Leidenschaft und Sehnsucht nach Spiritualität wirft sich Rossini einerseits kompromisslos in sakrale Atmosphären, andererseits spürt man innerhalb der Komposition wie er im nächsten Moment zweifelt, sich wie ein Kind hinter einer Säule versteckt, sich wundert und auch ein bisschen lustig macht. Ist er nicht ein Lustmolch? Wenn er Da Vincis "Abendmahl" als Fressorgie interpretiert und sogar ein Bezug zwischen der Messpraxis und seiner berühmten Koch-Kreation, den Tournedos à la Rossini, hergestellt wird ... Na, auch das. Die Tournedos habe ich sogar einmal für Kollegen selbst zubereitet ... Und? Wie finden Sie die? Eine Riesenperversion! Kalbsfilets angebraten und mit Madeirawein abgelöscht, das ganze mit getrüffelter Gänsestopfleber belegt und dann auch noch mit Cognac flambiert. Für mich sind das zu viele Geschmackserlebnisse gleichzeitig - find' ich ziemlich übertrieben. Was übertragen Sie von dieser durchlittenen Sinnlichkeit auf die Bühne? Gekocht wird nicht. Höchstens in metaphorischem Sinne. Wir haben versucht, Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts innerhalb unserer Truppe zu hinterfragen und für unser Stück zu verwerten - wenigstens in kleinen Segmenten. Eine "Denklandschaft" mit vier Protagonisten ist entstanden: dem Logiker, der psychoanalytisch oder verstandesmäßig sich seine Welt zu erklären versucht, dem Priester, der in all seiner Demut das Leben über die Liebe Gottes begreifen möchte, dem Ganoven, der aus der Religion und dem Kultus in der Gemeinde Profit schlagen will, und einer dämonischen Göttin, die zwischen Engel, Muttergottes und Hure changiert. Diese vier Gestalten leiten uns, indem sie aufeinander treffen, durch den Abend. Aber jetzt verrate ich schon viel zu viel. Der Zuschauer lässt sich also auf ein Experiment ein, Mehrdeutiges assoziativ zusammen zu reimen? Unter der stark visuellen Oberfläche des Spiels öffnen sich komische, poetische Bilder und Gedanken, die der Zuschauer - vor seinem eigenen Erfahrungshorizont - durchwandern kann. Bis hin zu dem lang und sehnsüchtig erwarteten Schlussakkord, mit dem auch Rossini selber seine Probleme hatte. So ganz rund endet es also nicht. Wir arbeiten noch daran. Ihr Stück ist noch gar nicht fertig? Es wird. Meist sind wir mit der Struktur des Abends eher zu früh fertig, damit die Akteure die Chance haben, wieder frei zu werden und auf der Basis des Erarbeiteten noch einmal zu improvisieren und das eine oder andere Detail zu verändern. Rossini instrumentiert nur mit zwei Klavieren und Harmonium, eine schwebende Musik eigentlich. Wir haben uns für die ursprüngliche Fassung entschieden, da Rossini selbst diese in Kennerkreisen gern als Wohnzimmer-Messe bezeichnete Fassung bevorzugte. Erst später hat er sie für eine größere Chor- und Orchesterfassung umgeschrieben und instrumentiert, damit dies nach seinem Tod kein anderer tun würde. Die Intimität, die sich durch die Musikerbesetzung herstellt, hat mich an dem Projekt sehr gereizt. Und müssen die Tänzer das auch: schweben? Also, Yui Kawaguchi schwebt grundsätzlich, die kann gar nicht anders. Aber sonst ist der Begriff Choreografie für meine Arbeit eher unangebracht, ich komme ja nicht vom Tanz. Sondern aus der bildenden Kunst. Gibt die Musik die Bewegungsabläufe vor? Es kommt vor, dass wir den Rhythmus bedienen, aber auch, dass wir uns davon lösen. Wohin führen uns die Navigatoren? Zum Paradies? Um Gottes Willen!
„es wird nicht nur witzig parliert bei diesem kurzweilig vertanzten und besungenen Bildertheater, sondern auch mit augenzwinkernder Selbstironie auf unsere Gegenwart geblickt…“
Gioachino Rossinis leistet seinen Beitrag zum Kunstfest Weimar mit "Petite messe solennelle" und "Nico and the Navigators". Und Nike Wagner nutzte wieder einmal lächelnd die Oper Erfurt. Manchmal könnte man ja meinen, dass es Nike Wagners Berufung ist, die Schwächen scharfzüngig aufzuspießen, die ihren beiden ungeliebten Cousinen in Bayreuth beim Umgang mit dem Werke des gemeinsamen Urgroßvaters Richard Wagner - vermeintlich oder tatsächlich - unterlaufen. Dabei ist ihre faktische Kritik am alljährlichen Richard-Wagner-Zirkus viel überzeugender. Nicht nur, weil sie dafür in Weimar mit ihrem Kunstfest den ebenfalls gemeinsamen Ururgroßvater Franz Liszt in Stellung bringt. Sondern vor allem, weil sie es mit Sinn fürs Erlesene, mit programmatischem Ehrgeiz und gelegentlich auch einem Augenzwinkern macht. So wie im Falle der Berliner Theatertruppe "Nico and the Navigators" um Regisseurin Nicola Hümpel, die jetzt Gioachino Rossinis "Petite messe solennelle" ihrer Welt aus Tanz und Musik einverleibt haben. Mit "Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts" ist der Untertitel sicherlich etwas hoch gegriffen. Aber ein dem lieben Gott höchstselbst gewidmetes Oratorium, das der Komponist und Lebensgenießer Rossini (1792 - 1868) vier Jahr vor seinem Tod und 34 Jahre, nachdem er das Opernkomponieren ad acta gelegt hatte, seinem Lebenswerk nachreichte, kann man sich bei dem Italiener eh nur schwer als Steilvorlage für eine Fundamentalkritik der Religionen heute vorstellen. Eher schon als ein freundlich mildes Zuprosten himmelwärts. Immerhin wird nicht nur witzig parliert bei diesem kurzweilig vertanzten und besungenen Bildertheater, sondern auch mit augenzwinkernder Selbstironie auf unsere Gegenwart geblickt. Nicht zufällig ist am Ende, wenn das Licht erloschen ist, ein Lachen aus dem Dunkel das Letzte, was man hört. "Did you see the Pope?", so lautete eine der ersten Fragen der immer wieder sketchartig eingestreuten Dialoge zwischen dem kritisch fragenden jungen Mann und dem antwortenden priesterlichen Kuttenträger. In Anspielung auf den anstehenden Papst-Besuch lautet die Antwort, viel entscheidender sei, ob der Papst dich gesehen habe. Darüber könnte wohl selbst der Papst noch schmunzeln. Und wirklich bissiger werden sie auch sonst nicht. Die Berliner Truppe bleibt auf dem leicht verdaulichen, ironischen Niveau, das Glauben mehr oder weniger als Teil von Ritualen der Mediengesellschaft wahrnimmt. Was im kirchenfernen Osten der Republik immerhin auch den eilfertigen Opportunismus einer neu entdeckten Religiosität einschließen mag.
„Über der Szene schwebt eine leise, manchmal auch grelle, ironische Skepsis gegenüber der Echtheit heutiger Bekenntnisrituale…“
Gioachino Rossinis »Petite messe solennelle« mit Nico and the Navigators in der Erfurter Oper Es ist keine Erfindung der Berliner Theatergruppe Nico and the Navigators, ein sakrales Werk zu vertanzen. John Neumeier hat das schon vor Jahrzehnten mit Bach gemacht. Und natürlich ist Verdis »Messa da Requiem« (wie in der Version von Achim Freyer an der Deutschen Oper Berlin) per se eine Steilvorlage für eine theatralische Aktion welcher Art auch immer. Nike Wagner hat zur aktuellen Ausgabe des von ihr mit kluger Dramaturgie dem eigenen Ururgroßvater Franz Liszt gewidmeten Kunstfestes Weimar »pèlerinages« die Berliner Theatergruppe Nico and the Navigators um die auf Erfolgskurs segelnde Regisseurin Nicola Hümpel mit einer Version von Gioachino Rossinis »Petite messe solennelle« nach Thüringen geholt. Das Stück wurde mit dem Grand Théâtre Luxemburg, den Bregenzer Festspielen, Herrenhausen und der Oper Erfurt koproduziert. Dass nach der Erfurter Premiere und einer Zwischenstation im Berliner Radialsystem auch europaweit damit getourt werden soll, passt zum weltläufigen Europäer Liszt. Mit seiner »Petite messe solennelle« hatte der genießerische Italiener Rossini (1792–1868) – vierunddreißig Jahre, nachdem er sich vom Opern-Komponieren ab-, und dem von erlesenen Speisen zugewandt hatte – seinem Lebenswerk noch eine »ernsthafte« Fußnote nachgereicht. Mit der Begrenzung auf zwei Klaviere (SooJin Anjou und David Zobel) und ein Harmonium (Jan Gerdes) sowie einem Chor in Dutzendstärke (inklusive der vier exzellenten Solisten Laura Mitchell, Ulrike Mayer, Milos Bulajic und Nikolay Borchev) kam man in Erfurt der kargen originalen musikalischen Ausstattung ziemlich nahe. Nicholas Jenkins dirigierte mitten im Geschehen. Die vier Performer/Tänzer der Hümpel-Truppe (Peter Fasching, Adrian Gillott, Patric Schott und Yui Kawaguchi) zogen dem musikalisch assoziativen Spiel narrative Leitplanken ein. Dass es bei der Übersetzung von Kyrie, Gloria, Credo und Sanctus in Bildertheater nicht um die bloße Illustration religiöser Erbauung geht, versteht sich von selbst. Was im Untertitel einen Zacken zu ambitioniert »Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts« genannt wird, ist freilich kein atheistischer Frontalangriff auf Glauben oder Kirche geworden. Obwohl sogar der Papst vorkommt in einem der sketchartigen, die Musiknummern verbindenden, meist amüsanten Wortgefechte zwischen einem alles hinterfragenden jungen Mann und einem alles verteidigenden Kuttenträger. Der Ältere, der sich wohl selbst als den personifizierten Glauben begreift, erscheint am Ende, ganz von weißem Licht und Wolken umflutet, in der geöffneten Himmelspforte unter dem schwungvollen Bogen, mit dem Oliver Proske die Spielfläche überwölbt hat. So wie die Protagonisten bewegen sich hier auch die Klaviere um eine Art Empfangstheke. Aus ihren Elementen kann man eine Treppe für ein Gruppenbild zum »Amen« formieren oder sie einzeln als Wippe beim Diskutieren als zusätzliches »Argument« verwenden, was zu den ironisch dynamischen Bildern dieser Collage gehört. Ansonsten schwebt vor allem eine leise, manchmal auch grelle, ironische Skepsis gegenüber der Echtheit heutiger Bekenntnisrituale über der Szene – etwa, wenn sich die beiden höchst attraktiven Damen Laura Mitchell (Sopran) und Ulrike Meyer (Mezzo) beim Gloria ein Duell an der Rampe liefern, bei dem sie nicht nur mit Stimmeinsatz, sondern auch mit Augenaufschlag und ihren Beinen zu punkten versuchen. Oder wenn eine andere Dame mit Riesenschwinger nur von einem exzessiv ausgeweiteten Dauer-»Amen« abzubringen ist, indem man ihr mit einen paar Scheinen das Maul stopft. Wenn über das »Credo« ein allgemeines Geldzählen gelegt wird, dann weiß wohl jeder, was gemeint ist. Irgendwann vermisst der Logiker im Stück die Unendlichkeit – in Lichtjahren bis zum Mond, zur Sonne, zur nächsten Galaxie. Ob sich Gott dort finden lässt, bleibt am Ende ebenso offen wie seine Gegenwart auf Erden. Die Musik ist dafür allemal ein geeignetes Reisegefährt. Und der Papst? Der kommt demnächst persönlich nach Erfurt. »Did you see the pope?«, wurde jetzt schon mal gefragt.
„Bitterböse Anspielungen treffen auf Despektierliches, Slapstick auf Freud, Opernparodie auf auf Sozialsatire. Nicht nur über die Beziehung des Menschen zu einem höheren Wesen wie Gott wird erzählt, sondern auch über jene zwischen den Erdenbewohnern. Bewegend sind gerade Szenen wie ein beinahe klassisches Pas-de-deux oder fast durchchoreographierte Ensembles eben jene Momente, in denen Musik und Aktion fast vollends ineinander aufgehen…“
Das Kunstfest Weimar gastiert mit einen Stück über Religion und Glauben in Erfurt. Was macht Musik zu einer sakralen und was zu einer opernhaften? Der Rahmen, die Tradition oder doch ein wenig mehr? Die Messe eines Opernkomponisten ist ein Paradebeispiel für ein solches Gedankenexperiment. Rossinis "Petite messe solennelle" haben die Künstler der Berliner Theatertruppe "Nico and the Navigators" zum Ausgangspunkt ihrer theatralen Reflexion im Rahmen des Weimarer Kunstfestes genommen. Das Rituelle von Religion, Theater und Alltag wird zelebriert, vernetzt und immer wieder gebrochen. Viel Action herrscht auf der Bühne des Erfurter Opernhauses, deren gewaltige Ausmaße gerade ausreichend sind, um in dem bemerkenswerten Bühnenbild von Oliver Proske zwei Flügel und ein Harmonium hin- und herzuschieben, wie es die Szene braucht. Die spielen SooJin Anjou, David Zobel und Jan Gerdes bemerkenswert souverän angesichts der Einbettung in die Aktion. Dass trotz des flexiblen Auftretens und szenischen Mitwirkens des musikalischen Leiters Nicholas Jenkins, dabei nicht gerade lupenreine Präzision und klangliche Ausgewogenheit das besondere Markenzeichen dieser Produktion sind, ist man gewillt hinzunehmen, auch weil sich das manchmal recht derbe, mit kraftvollen Farben und Kontrasten gemalte Klangbild gut ins Ganze fügt. Insofern ist die Besetzung der Chorpartien mit wenigen, aber großen Stimmen durchaus im Sinne der Konzeption. Und mit Stimmen wie dem weichen runden Mezzosopran von Ulrike Mayer oder dem mühelos geführten Tenor von Milos Bulajic hält dieses Ensemble echte Entdeckungen bereit. Zwischendurch gibt es wütende und tragikomische Ausbrüche die Tirade über "Burnout-Narzisten" und Co. ist da gewiss ein Höhepunkt, über Menschen, die das Wochenende in ihrem Haus auf dem Land verbringen, wo sie ihr Brot selbst backen und den Wein selbst vom Weinbauern holen, der dann fast so gut schmeckt, wie der bei dem Italiener, zu dem sie aber nicht mehr hingehen, seitdem die Pasta nicht mehr al dente ist Sinnsuche ist das große Thema dieses Abends. Unterschiedliche Varianten einer religiösen Sinnsuche werden vorgestellt und treten in Wechselwirkung. Die drei Performer Peter Fasching, Adrian Gillott und Patric Schott, gemeinsam mit der überzeugend präsenten Tänzerin Yui Kawaguchi sind die sogenannten Navigators, die durchgängige, wenn auch nicht konkret benennbare Typen innerhalb dieses von Nicola Hümpel konzipierten Theaters verkörpern und in diesen Rollen die Handlung vorantreiben ein Kleriker, ein Rationalist und ein Egozentriker. Abstrakt und konkret zugleich ist die Handlung. Szenische Assoziationen werden über die von Rossini vorgegebene Linie entwickelt, entlang des Widerspruches zwischen sakraler Form und opernhaft buffoneskem Gestus. Stilistische Vielfalt dominiert. Das wird durch die knalligen Kostüme von Frauke Ritter verstärkt zeitgenössisch, aber abstrakt. Bitterböse Anspielungen treffen auf Despektierliches, Slapstick auf Freud, Opernparodie auf nein, nicht auf Gotteslästerung, das wird immer haarscharf umschifft, sondern auf Sozialsatire. Nicht nur über die Beziehung des Menschen zu einem höheren Wesen wie Gott wird erzählt, sondern auch über jene zwischen den Erdenbewohnern. Bewegend sind gerade Szenen wie ein beinahe klassisches Pas-de-deux oder fast durchchoreographierte Ensembles eben jene Momente, in denen Musik und Aktion fast vollends ineinander aufgehen. Manchmal tief bewegend, manchmal urkomisch und manchmal ein bisschen langatmig Eindruck reiht sich an Eindruck und verschmilzt erst ganz zum Schluss zu einem Ganzen, das dann doch irgendwo schlüssig ist.
„Einen Geniestreich landete Oliver Proske mit seiner Bühnenausstattung, deren multifunktionale Teile Nicola Hümpel kunstvoll zu beweglichen Bildern zusammensetzte…. Rossinis ‚arme kleine Messe‘, interpretiert von einer fantastischen Solistenbesetzung unter Leitung Nicholas Jenkins‘, zeigte durch ihre kokette Opernnähe, den Traditionsbezug und des Komponisten schelmische Manuskriptnotiz an Gott einen Weg individueller Glaubensgestaltung…“
Viele Fragen werfen Nico and the Navigators in ihrer neuen Bildtheater-Produktion zu Gioachino Rossinis "Petite messe solennelle" auf. Doch sind die Fragen nicht nur existentielle Auseinandersetzungen mit Sinn und Zweck des Daseins. Über weite Strecken sind es Fragen konzeptioneller Art. Am Freitag und Samstag war die musikalisch brillante Uraufführung, in Kooperation mit dem Kunstfest Weimar "pèlerinages" erarbeitet, im Theater Erfurt zu erleben. Viel Kritik an Spiritualität und institutionalisierter Religiosität teilen die Navigatoren aus, doch sinnige Identifikationsangebote bietet die collageartige Bilderfolge Nicola Hümpels kaum: Das Warum soll sich aus künstlerischem Impuls und Erfahrungshorizont des Betrachters füllen. Immerhin zeigte Rossinis "arme kleine Messe", interpretiert von einer fantastischen Solistenbesetzung unter Leitung Nicholas Jenkins', durch ihre kokette Opernnähe, den Traditionsbezug und des Komponisten schelmische Manuskriptnotiz an Gott einen Weg individueller Glaubensgestaltung. Im deutsch-englischen Diskurs verschiedener Figuren (ohne Untertitel!) hinterfragt die freie Berliner Compagnie Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts: Ein Logiker sucht in der Auseinandersetzung mit einem Priester rationale Erklärungen für die Existenzfragen, die er für sich nur unbefriedigend beantworten kann, jedoch mit aller Macht des Gläubigen den Halt in Gott zu zerrütten sucht. Hümpel greift Rossinis Ironie auf So debattieren die Figuren den Absolutheitsanspruch kirchlicher Glaubensauslegung und demaskieren Selbstdarstellung und Fehler der Diener des Herrn, sowie Formen übersteigerter Religiosität. Ein Cowboy in bayerischer Tracht hingegen stellt sich die großen Fragen des Lebens erst gar nicht und sieht schon in der Begegnung mit einer Kuhträne eine überirdische Erfahrung. Andere hingegen wissen Profit aus Heilsversprechen zu schlagen und feilschen im "Credo", wenn es um die Auferstehung und den Eintritt in das Himmelreich geht, über den Preis für den Sphärenübertritt. Innere Balance und Harmonie fanden erst Yui Kawaguchi und ihr Partner, die in vergnügter Verspieltheit tänzerisch dem Frühlingsrausch frönten. Einen Geniestreich landete Oliver Proske mit seiner Bühnenausstattung, deren multifunktionale Teile Nicola Hümpel kunstvoll zu beweglichen Bildern zusammensetzte. Kaum Ausdeutung erfuhr der Ordinariumstext, dessen Gottesfurcht sogar szenisch konterkariert wurde, wie beispielsweise im "Gloria", als die Darsteller zu den Gottesanrufungen auf den Boden spuckten. Die musikalische Ironie Rossinis mit opernhaften Melodiegesten griff die Regisseurin in Primadonnen-Imitationen auf. Doch ließ die Produktion das gewohnt Schelmische der Truppe nur selten durchscheinen und füllte manche Leere mit Slapstick. Zum Teil unterlief das Bühnenspiel auch die tiefe Kontemplation, die sich durch die gesanglichen Höchstleistungen einstellte. Aus der ungewöhnlichen instrumentalen Besetzung der Messe mit Harmonium (Jan Gerdes) und zwei Klavieren (SooJin Anjou, David Zobel) zog Nicholas Jenkins große rhythmische Verve und sensible Ausdrucksfähigkeit. Rossinis "Alterssünde" versprühte unter seinem Dirigat große Lebendigkeit und Energie. Der Chor erstrahlte in schönster Balance mit reizvollen Piani im A-Capella wie Stimmkraft in den Jubelchören. Gerade die polyphonen Passagen erklangen voll transparenter Leichtigkeit. Mit erhabener Ausgewogenheit und geschmeidigen Stimmen brillierte das Solistenquartett aus Laura Mitchell, Ulrike Mayer, Milos Bulajic und Nikolay Borchev.
…Es wird nicht nur witzig parliert bei diesem kurzweilig vertanzten und besungenen Bildertheater, sondern auch mit augenzwinkernder Selbstironie auf unsere Gegenwart geblickt. Rossinis Musik lieferte den Raum, den die Truppe für Glaubensbekenntnis zur Kraft der Musik und des Tanzes brauchte. Sie fühlten sich darin so wohl, dass sie das Publikum der Erfurter Oper damit ansteckten…
Gioachino Rossinis leistet seinen Beitrag zum Kunstfest Weimar mit "Petite messe solennelle" und "Nico and the Navigators". Und Nike Wagner nutzte wieder einmal lächelnd die Oper Erfurt. Manchmal könnte man ja meinen, dass es Nike Wagners Berufung ist, die Schwächen scharfzüngig aufzuspießen, die ihren beiden ungeliebten Cousinen in Bayreuth beim Umgang mit dem Werke des gemeinsamen Urgroßvaters Richard Wagner - vermeintlich oder tatsächlich - unterlaufen. Dabei ist ihre faktische Kritik am alljährlichen Richard-Wagner-Zirkus viel überzeugender. Nicht nur, weil sie dafür in Weimar mit ihrem Kunstfest den ebenfalls gemeinsamen Ururgroßvater Franz Liszt in Stellung bringt. Sondern vor allem, weil sie es mit Sinn fürs Erlesene, mit programmatischem Ehrgeiz und gelegentlich auch einem Augenzwinkern macht. So wie im Falle der Berliner Theatertruppe "Nico and the Navigators" um Regisseurin Nicola Hümpel, die jetzt Gioachino Rossinis "Petite messe solennelle" ihrer Welt aus Tanz und Musik einverleibt haben. Mit "Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts" ist der Untertitel sicherlich etwas hoch gegriffen. Aber ein dem lieben Gott höchstselbst gewidmetes Oratorium, das der Komponist und Lebensgenießer Rossini (1792 - 1868) vier Jahr vor seinem Tod und 34 Jahre, nachdem er das Opernkomponieren ad acta gelegt hatte, seinem Lebenswerk nachreichte, kann man sich bei dem Italiener eh nur schwer als Steilvorlage für eine Fundamentalkritik der Religionen heute vorstellen. Eher schon als ein freundlich mildes Zuprosten himmelwärts. Immerhin wird nicht nur witzig parliert bei diesem kurzweilig vertanzten und besungenen Bildertheater, sondern auch mit augenzwinkernder Selbstironie auf unsere Gegenwart geblickt. Nicht zufällig ist am Ende, wenn das Licht erloschen ist, ein Lachen aus dem Dunkel das Letzte, was man hört. "Did you see the Pope?", so lautete eine der ersten Fragen der immer wieder sketchartig eingestreuten Dialoge zwischen dem kritisch fragenden jungen Mann und dem antwortenden priesterlichen Kuttenträger. In Anspielung auf den anstehenden Papst-Besuch lautet die Antwort, viel entscheidender sei, ob der Papst dich gesehen habe. Darüber könnte wohl selbst der Papst noch schmunzeln. Und wirklich bissiger werden sie auch sonst nicht. Die Berliner Truppe bleibt auf dem leicht verdaulichen, ironischen Niveau, das Glauben mehr oder weniger als Teil von Ritualen der Mediengesellschaft wahrnimmt. Was im kirchenfernen Osten der Republik immerhin auch den eilfertigen Opportunismus einer neu entdeckten Religiosität einschließen mag. Auf fahrbarem Untersatz und als Teil einer bühnenfüllenden Aktion übernehmen zwei Flügel und ein Harmonium den musikalischen Part. Die mit ihren Multitalentpfunden wuchernden, fabelhaften insgesamt 16 Sänger-Tänzer-Darsteller übernehmen den Rest. Und der Dirigent Nicholas Jenkins ist Teil des Ganzen und mittendrin. Die Spielfläche hat Oliver Proske mit einem schwungvollen Bogen überwölbt, den man gut für ein schick designtes Himmels-Portal halten kann. Wenn sich die Pforte dahinter öffnet, fluten jedenfalls weißes Licht und Wolkendunst über das irdische Bemühen, die Musik Rossinis nicht nur hör-, sondern ihren Anlass und Zauber auch sichtbar zu machen. Bei Nico Hümpel fährt die Musik auf vielfältige Weise in die Tänzer und Sänger. Beim Gloria etwa liefern Laura Mitchell und Ulrike Mayer nicht nur überzeugende Proben für Sopranstrahlkraft und satten Mezzo, sondern obendrein einen frivolen Wettkampf zwischen zwei attraktiven Diven ab. Immer wieder profilieren sich Einzelne, bis sich alle immer wieder zum Gruppenbild formieren. Vor allem Rossinis Musik lieferte den Raum, den die Truppe für Glaubensbekenntnis zur Kraft der Musik und des Tanzes brauchte. Sie fühlten sich darin so wohl, dass sie das Publikum in der nicht ganz ausverkauften, aber gut besuchten Erfurter Oper damit ansteckten.
„Nicola Hümpel präsentierte im Vorfeld der Rundreise von Benedikt XVI. und mit mancherlei Anspielungen auf den Papst einen exzessiven und intensiven Theaterabend, der sich im Gefolge von Christoph Marthaler, Alain Platel und anderer im letzten Jahrzehnt bedeutsam gewordenen Tanzkonzeptkünstler bewegt: ein ‚Konzert der Körper‘, das mit Anmut, aber auf begriffslose Weise den Messtext und die ihm zugesellte Kirchenkonzertmusik hinterfragt…“
Gioacchino Rossinis "Petite Messe solennelle", theatral aufbereitet in Erfurt Fragen nach Öffnungszeiten melden sich zu Beginn der Kreation, zu dem zwei Darsteller unter einem kess geschwungenen Bogen hervortreten. Der überwölbt - womöglich in Erinnerung an den vom Gott des Alten Testaments gesetzten Regenbogen und an die Produktästhetik der 1950er-Jahre - die Bühne des Erfurter Theaters. Derlei Fragen bildet einen probaten Auftakt für ein Theaterprojekt, das eine Meßkomposition "um intime Zeugnisse des Glaubens und Zweifeln" zu bereichern beabsichtigte. Das eigentlich in Weimar angesiedelte Festival pèlerinages präsentierte in der Landeshauptstadt Gioacchino Rossinis "Petite Messe solennelle", ein 1864, kurz vor dem Tod des Großmeisters der Opera buffa und Schöpfers der Grand Opéra uraufgeführtes Werk. Als ausführende Organe berufen wurden Nico and the Navigators - das in der Berliner Off-Theater-Szene seit Jahren rührige Künstlerpaar Nicola Hümpel (Gruppendynamik und Regie) und Oliver Proske (Bühne) samt Charakterdarstellern, die grenzüberschreitend als Schauspieler und Körperartisten wirken. Vielen Hörern kam und kommt Rossinis kleine Messe nicht sonderlich feierlich vor, sondern eher allzu heiter, mitunter "schräg" und insgesamt eher aus dem Geist des musikalischen Entertainment als kirchenmusikalischen Gattungstraditionen genährt: Musik mit "verrutschter" Würde und gelegentlicher Situationskomik, die dem "lieben Gott" (dennoch oder erst recht) wohlgefällig sein mag. Rossinis Spätwerk stützt sich nicht auf die traditionelle Arbeitsteilung von Soli, Chor und Orchester, sondern wird von einem Dutzend Sänger, zwei Klavieren und Harmonium bestritten. Zwei Flügel wurden nun also in Erfurt zum Harmonium geschoben, das schon auf der Bühne sichtbar in Stellung gebracht war und das Surrogat eines Bläsersatzes präsentierte. Die drei Tasteninstrumente unterfütterten und umspielten die Turn- und Sporteinlagen des von Yui Kawaguchi angeführten Spezialdarsteller-Quartetts und den zwölf Sängern, die allesamt auch charakteristische "Typen" sind: Milos Bulajic, der tenorale Tenor, und der geschmeidig-profunde Bassist Nikolay Borchev, die scharf pointierende Sopranistin Laura Mitchell und die mit ruhiger, warmer Stimme überzeugende Mezzosopranistin Ulrike Mayer. Der mitunter wie in Trance auf die Bühne herumfuchtelnde oder auch lässig winkende Dirigent Nicholas Jenkins animierte das singende und hämmernde Team in angemessener Weise: die Kontraste wurden scharf profiliert. Nicola Hümpel präsentierte im Vorfeld der Rundreise von Benedikt XVI. und mit mancherlei mehr oder minder humoristischen Anspielungen auf den Papst einen exzessiven und intensiven Theaterabend, der sich im Gefolge von Christoph Marthaler, Alain Platel und anderer im letzten Jahrzehnt bedeutsam gewordenen Tanzkonzeptkünstler bewegt und verharrt: ein "Konzert der Körper", das mit Anmut, aber eben auf begriffslose Weise den Messtext und die ihm zugesellte Kirchenkonzertmusik "hinterfragt". Allerdings rührt dies Verfahren nicht an die Fragen der Glaubensüberlieferung, an womöglich obsolet gewordene religiöse und kirchenmusikalische Riten oder die Fragen des autoritären und selbstgerechten Papsttums. Von den durch Hümpel und ihrer Truppe herbeibemühten Theaterbildern vernünftige Auseinandersetzung mit dem derzeit wieder wogenden Glaubensbedürfnis oder den sturzflutartig ausbreitenden Wellen des Aberglaubens zu erwarten, hieße diese heillos überfordern. Im pietistischen Randsegment des (seiner Genese nach strikt wortbezogenen) Protestantismus tummeln sich seit längerem Vorstellungen einer "nonverbalen Verkündigung", die womöglich von Voodoo-Kultbräuchen nicht allzu weit entfernt liegen. Hümpels sensible und esoterisch angehauchte Annäherung an die Probleme des Glaubens im frühen 21. Jahrhundert und die Kritik von Glaubensbekenntnissen kreiert mancherlei hübsche Theaterbilder, verfehlt aber sämtliche Zentren und sogar die Epizentren der anliegenden Probleme.
„Musikalisch ist dieser Abend außerordentlich gelungen, Solisten und Chor sind großartig und Rossinis ‚arme kleine Messe‘ wird in all ihrer Vielschichtigkeit zum Leben erweckt. Glaube und Skepsis, Sehnsucht und Ironie, Melancholie, Trauer, Schwermut und glitzernde Leichtigkeit finden sich ja schon bei Rossini selbst – er selbst hat sich in diesem Werk als ein Zerrissener gezeigt… das Publikum hat mit begeistertem Applaus reagiert.“
Keinem Geringeren als dem "lieben Gott" selbst hatte Gioacchino Rossini eines seiner letzten Werke gewidmet, die Petit Messe Solenelle, die "Kleine Festliche Messe". Diese Messe hat sich die Berliner Tanz- und Theatercompagnie "Nico and the Navigators" zur Vorlage für ihr neues gleichnamiges Stück genommen. Eine geistliche Komposition ist also Grundlage für ein Stück, in dem es um "Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts" gehen soll. Regisseurin Nicola Hümpel und ihre Navigatoren bleiben sehr nah an Rossinis Originalkomposition und aus dieser grundsätzlichen Entscheidung erwächst ein grundlegendes Problem dieses Abends. Es erklingt die Urfassung der "armen kleinen Messe", wie Rossini sein Werk genannt hat, die Urfassung für zwei Klaviere und ein Harmonium, für Solisten und 12-stimmigen Chor. Das lateinisch-katholische Messritual erklingt in seiner ganzen Pracht und Schönheit: vom Kyrie, Herr erbarme dich unser, über das mehrfache Glaubens-Credo bis hin zum Agnus Dei, zum Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Somit ist dramaturgisch das Stationen-Drama von Geburt, Kreuzigung und Wiederauferstehung vorgegeben, in all seiner festgefügten feierlich-festlichen Langsamkeit, ja Behäbigkeit. Da mit dieser Inszenierung nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Glaubens in unserer Zeit gefragt werden soll, hat Nicola Hümpel den Gesang mit Pantomime, Schauspiel und Tanz unterlegt – auf diesen drei Ebenen wird die allerdings eher matte Glaubenskritik verhandelt. Zudem wird das gesungene Glaubensbekenntnis mit der Skepsis eines großen Zweiflers konterkariert, eines jungen Mannes, der ausgerechnet Benedikt heißt. Dieser Benedikt betritt zu Beginn die Bühne durch einen großen futuristisch geschwungenen Wolken-Bogen, der silbrig-weiß schimmert und luftig und massiv zugleich wirkt – ob dies das Paradies sein mag, bleibt offen. Sofort gerät dieser skeptische Benedikt in Streit mit einem Mann in Kapuzenmantel, der Gott selbst oder ein Engel oder ein Priester sein könnte. Die Streitgespräche der beiden, Glauben contra Wissen und Aufklärung, durchziehen die gesamte Inszenierung. Sie enden fast immer in einem Witz und keine der beiden Positionen wird diesen Streit gewinnen. Einen Streit, der sich auch im Chor fortsetzt, der von Rossini nicht ohne Absicht mit 12 Sängern und Sängerinnen besetzt wurde. Wie die 12 Apostel gebärden sie sich hier allerdings wahrlich nicht. Da wird das Credo "Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater" mit schiefen Gesichtern gesungen, Jubel, Verzückung und Glaubensekstase werden gestisch völlig übertrieben und damit unglaubwürdig dargestellt. Ein Sänger bricht immer wieder in hysterisch-ungläubiges Lachen aus, ein Rosenkranz wird zur Fessel und Schlinge um den Hals und symbolstarke weiße Rosen werden gnadenlos mit der Schere geköpft. Derartige parodistische, ironische und spöttische Distanzierungen finden sich auch in den kurzen Gesprächs- und Tanzmomenten zwischen den einzelnen Teilen der Messe und zwar ganz grundsätzlich mit seit Jahrhunderten bekannten atheistischen und agnostischen Argumenten und auch mit dem spöttischen Beklagen unseres Zeitgeistes, der hilflosen Suche nach dem Glauben in unserer Zeit. Auch diese Glaubens-Suche mithilfe fernöstlicher Religionen, Wellness-Kult, Bioresonanztherapie und Naturschwelgerei wird hier auf die Schippe genommen. Da erzählt ein Sänger ganz berauscht von seinem mystischen Erlebnis auf der Kuhweide – ausgerechnet in der Träne einer Kuh hatte er eine Erscheinung. Das Ineinander von Gesang, Theater und Tanz, ein Markenzeichen von Nico and the Navigators, für das die Truppe in diesem Jahr mit dem George-Tabori-Preis ausgezeichnet wurde, es funktioniert hier nur mäßig gut. Die Solisten und Chorsänger haben zwar auch ihre darstellerischen Momente und derjenige auf der Bühne, der sich am meisten bewegt, der mit seinem Körper die Musik zum Tanzen bringt, ist zwar der Dirigent, der fast schon irrlichternde Nicholas Jenkins – aber die Dramaturgie ist durch die Messe fest zementiert, Schauspiel, Gesang und Musik wechseln sich fast statisch ab. Ganz im Gegensatz zu anderen choreographischen Musik-Inszenierungen von Nico and the Navigators knirschen hier die Scharniere zwischen den Genres, das hat man bei ihren Stücken zu Schubert, Händel und Bach schon besser gesehen. Die einzige Tänzerin, Yui Kawaguchi ergeht sich als Inkarnation des Teufels überwiegend nur in koboldartiger Körper-Gymnastik, gern auch mal als scheinschwangere Marien-Erscheinung – der Tanz kommt eindeutig zu kurz. Und die Texte, die in langen gruppendynamischen Prozessen aus Improvisationen entstanden sind, bleiben zumeist auf einer recht simplen, albernen Ebene – wirkliche Religionskritik oder aber wirkliche Kritik am Relativismus des Glaubens und unserer Werte, wie sie Papst Benedikt der 16. vertritt, findet nicht statt. Musikalisch ist dieser Abend außerordentlich gelungen, Solisten und Chor sind großartig und Rossinis "arme kleine Messe" wird in all ihrer Vielschichtigkeit zum Leben erweckt. Glaube und Skepsis, Sehnsucht und Ironie, Melancholie, Trauer, Schwermut und glitzernde Leichtigkeit finden sich ja schon bei Rossini selbst – er selbst hat sich in diesem Werk als ein Zerrissener gezeigt. Inhaltlich und szenisch bleibt diese Inszenierung jedoch unbefriedigend. Dieses Bildertheater bleibt auf der Ebene der kleinen Spöttelei, es fehlt an Wagemut und Risikobereitschaft, der Abend bleibt lammfromm im Ungefähren. Es reicht nicht, das Heilige und das Profane neben einander zu stellen. Aber immerhin: das Publikum hat mit begeistertem Applaus reagiert.
Eine Produktion von „pèlerinages“ Kunstfest Weimar und NICO AND THE NAVIGATORS. In Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Luxembourg, den Bregenzer Festspielen (Kunst aus der Zeit) den KunstFestSpielen Herrenhausen und dem Theater Erfurt. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds, die Schering Stiftung, die Augstein Stiftung und aus Mitteln des Landes Berlin. In Kooperation mit der Opéra-Comique Paris, der Opéra de Dijon und der Radialstiftung.
Die Neufassung im Dezember 2018 wird unterstützt durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa - Spartenoffene Förderung. In Kooperation mit dem RADIALSYSTEM.
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