Ein Projekt über Selbstbetrug, Fremdbestimmung, Notlügen und Trugschlüsse
Dieser Satz ist falsch!
Das Wichtigste vorab: „Dieser Satz ist falsch!“ Falls die Tragweite dieser Aussage in der gebotenen Kürze noch nicht deutlich geworden ist, kann man getrost ein wenig weiter ausholen: Der nächste Halbsatz wird eine einzige Lüge sein – und der vorige Halbsatz war die volle Wahrheit! Irgendwo dort, auf dem Bindestrich als schmalem Grat zwischen den Extremen, findet sich „The whole Truth about Lies“, der NICO AND THE NAVIGATORS mit ihrer jüngsten Expedition auf die Spur kommen wollen. Denn wer die ganze Wahrheit über Lügen sucht, wird im Paradoxen fündig – oder im Theater, wo die erhoffte Erkenntnis auf einer verabredeten Täuschung basiert. Hier überrascht die Illusion selbst dann, wenn man bei ihrer Verfertigung zusehen und die Funktionsweise im halb-transparenten Spiegelkabinett des Bühnenraumes buchstäblich durchschauen darf. Welch eine Dynamik ein stabiler Trick in Verbindung mit fortschreitender Technologie entwickeln kann, versetzte allerdings selbst die Urheber dieser Versuchsanordnung in Erstaunen: Die digital veränderten Figuren werden von analogen Flächen reflektiert, das Bild überlagert den Gegenstand … ach, das muss man selber sehen!
Aber noch einmal: „Dieser Satz ist falsch!“ Wie ein Leitmotiv durchzog die Suche nach wahrhaftigen, belastbaren Aussagen über Lügen die Arbeit am Stück – und führte zu der Einsicht, dass sich die abstrakte Größe am besten in kleinen, konkreten Formen fassen lässt. Ein gläubiges Lippenbekenntnis oder ein Gespräch über eine abgelebte Liebe, eine geheuchelte Wiedersehensfreude oder ein Nachruf am offenen Grab erzählen viel über die untrennbare Verstrickung des Wahren mit dem Falschen. Anders als bei den widersprüchlichen Nachrichten oder den kaum verifizierbaren Bildern, mit denen Krisen begründet und Kriege begonnen werden, fühlt sich der Einzelne in solchen privaten Situationen aber nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Zwar basiert die landläufige Behauptung, dass jeder Mensch pro Tag 200 Lügen aussprechen würde, auf einer Verwechslung von Ursache und Wirkung: Die ursprüngliche Aussage des amerikanischen Psychologen Jerald Jellison bezog sich in den 1970er Jahren auf die passive, nicht auf die aktive Rolle und meinte damit die Zahl der empfangenen, nicht die Menge der gesendeten Unwahrheiten. Doch selbst wenn die häufig bemühte Statistik nicht stimmt (und mit jeder Wiederholung doch zugleich immer wahrscheinlicher wird), enthält sie einen wahren Kern: Denn jede Lüge muss einen Urheber haben – und ein einziger Redner genügt, um viele Menschen mit seiner Botschaft zu infizieren. Es braucht also nur einen Wirt für das Virus …
Ein schönes Beispiel für diese epidemische Verbreitung lieferte vor anderthalb Jahrzehnten eine große Boulevard-Zeitung, als sie mit einer Werbekampagne die eigene Glaubwürdigkeit unterstreichen wollte: Unter dem Satz „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht!“ platzierte sie Fotografien von Mahatma Gandhi und Martin Luther King, Sigmund Freud oder Albert Einstein. Aus der Kombination des Geschriebenen mit dem Gezeigten entstand eine inhaltliche Verkettung, das vermeintliche Zitat wurde dem Porträtierten zugeordnet und durch die Verbindung beglaubigt. In den sozialen Netzwerken ist diese Verschmelzung von eigentlich unvereinbaren Elementen inzwischen allgegenwärtig, das harmlose Spiel mit der Täuschung lässt sich dort von vorsätzlicher und gefährlicher Manipulation kaum noch unterscheiden. Und wenn ausgerechnet der KI-Copilot, der auf Wunsch Bilder und Texte generiert, die erbetene Konversation über seine eigene Fähigkeit zur Lüge nun sofort beendet und keine Rückfragen zulässt, ist das doch wohl … eine Lüge?
Vor und hinter dem Spiegel werden all diese Aspekte angerissen und musikalisch akzentuiert, das Spektrum der umgewidmeten Fundstücke reicht von der barocken Schutzengel-Beschwörung bis zur fatalistischen Feier des Zerbrochenen, von Fleetwood Macs „Tell me Lies“ bis zu John Lennon „Give me some Truth“. Während Rossinis „La callunia“ als meteorologische Umschreibung einer von fern heraufziehenden Verleumdung unmissverständlich sein dürfte, ist die Puppen-Arie der Olympia aus „Hoffmanns Erzählungen“ eher eine Vorahnung heutiger Trugwelten, in denen künstliche Kreaturen von echten Gefühlen singen. Und Schostakowitschs Vertonungen der Sonette von Michelangelo und Shakespeare erzählen von der Erschöpfung des Ehrlichen in einer Welt der Lügen – und von dem Undank, mit dem dort die Wahrheit der Kunst bedacht wird. Dass in den beigefügten Texten bereits Fragmente einer Artificial Intelligence lauern, die den Menschen nur noch als Medium braucht, darf angesichts der verwirrenden Bilder aus derselben Quelle vermutet werden. Aber denken Maschinen überhaupt moralisch? Und wissen sie, was wir meinen, wenn wir sagen: Dieser Satz ist falsch!?
Die durchsichtige Lüge: Pepper‘s Ghost
Im Jahr 1862 – einer von technologischen Wundern und wissenschaftlichen Entdeckungen geprägten Epoche – stellte der britische Erfinder John Henry Pepper eine optische Illusion vor, die bis heute für Faszination und Verwirrung sorgt. Dabei basiert „Pepper‘s Ghost“ eigentlich auf einer relativ einfachen Konstruktion: Dank eines geschickt angeschrägten, halbtransparenten Spiegels kann das Abbild eines Körpers so reflektiert werden, als würde es sich direkt im Raum befinden. Ursprünglich wurde diese Technik entwickelt, um das Publikum des viktorianischen Zeitalters mit der Darstellung von Geistern und Phantomen zu unterhalten und zu verblüffen. Die moderne Verbindung dieses Effekts mit digitalen Videoeinblendungen steigert nun nicht nur seine Wirkung, sondern führt auch zu neuer Unschärfe in der Beschreibung: „Pepper’s Ghost“ ist keinesfalls – wie häufig fälschlicherweise behauptet wird – eine holografische Technik. In der Holografie werden dreidimensionale Bilder mittels Lasertechnik erzeugt, die Ergebnisse sind bei aktuellem Stand der Entwicklung maximal einige Zentimeter groß – und haben nichts mit der einfacheren, aber effektiveren Reflektionstechnik zu tun. Die Umbenennung einer altbekannten Illusion in eine futuristische Technologie illustriert zugleich die Bereitschaft, mit der die Oberfläche für die Tiefe, das Abbild für das Original genommen wird. In einer solchen Welt wird die Lüge zur Wahrheit, weil sie bequemer, zugänglicher und spektakulärer erscheint. Diese Lüge ist nicht harmlos; sie reflektiert eine Gesellschaft, die zunehmend bereit ist, Oberfläche für Substanz, Erscheinung für Essenz zu nehmen und in der Schein oft über Sein triumphiert. „The whole Truth about Lies“ …
Andreas Hillger, Dramaturg
Eine Produktion von NICO AND THE NAVIGATORS und den Schwetzinger SWR Festspielen, gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa sowie aus Mitteln des Hauptstadt Kultur Fonds. In Kooperation mit dem Radialsystem.
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