Der verräterische Blick durch die Brille: Eine Augmented Reality Projekt zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum
Wenn man den Begriff der Augmented Reality wörtlich nimmt, kann er alle Formen von Kunst beschreiben: Als Erweiterung der Wirklichkeit ist schließlich jedes Bild und jede Skulptur, jedes literarische oder musikalische Werk und vor allem jede Inszenierung gedacht und geeignet. Dank fortschreitender Entwicklung aber hat der Terminus sich selbst erweitert und konkretisiert: Mit speziellen Brillen, die virtuelle Bilder in tatsächliche Erscheinungen mischen können, entsteht eine neue Ebene des Zeig- und Erzählbaren. Auf dieser Technologie basiert „Verrat der Bilder“ – eine performative Reise, die zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum durch die Dessauer Meisterhäuser, das Berliner Georg Kolbe Museum und die Landesvertretung Sachsen-Anhalts in Brüssel führen wird. NICO AND THE NAVIGATORS präsentieren ihre jüngste Arbeit damit an drei wichtigen Orten der Klassischen Moderne: Während im Doppel-Wohnhaus der Bauhaus-Meister Georg Muche und Oskar Schlemmer einst zur Zukunft des Gestaltens und Darstellens geforscht wurde, entstanden im 1928/29 erbauten, durch den Schweizer Ernst Rentsch und den Bauhausschüler Paul Linder entworfenen Atelier von Georg Kolbe Ikonen der Bildhauerei … auch in Assoziation zu Entwürfen von Walter Gropius oder Ludwig Mies van der Rohe. Die Brüsseler Landesvertretung von Sachsen-Anhalt schließlich wurde 1969 vom Bauhaus-Schüler Franz Ehrlich als DDR-Botschaft gestaltet und verweist formal auf die historische Hochschule für Gestaltung.
Mit Hilfe der Magic Leap-Brillen, die derzeit die beste verfügbare Variante der Augmented oder auch Mixed Reality darstellen, fragt „Verrat der Bilder“ nach der Verlässlichkeit des Sichtbaren und nach der Manipulation von Wahrnehmung. In Zeiten von Fake News und asozialen Netzwerken gestattet der Blick durch die Brille eine veränderte Wahrnehmung von scheinbar gesicherten Erkenntnissen, die erweiterte Realität widerspricht dem bloßen Augenschein. Dass den Anlass für dieses Spiel dabei ausgerechnet die Säkularfeier des Bauhauses liefert, hat guten Grund: Immerhin wurde nach den eher esoterischen und handwerklich orientierten Anfängen in Weimar spätestens mit dem Wechsel nach Dessau die Parole „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ ausgerufen. Und wenn man die zahlreichen fotografischen Experimente der Bauhäusler betrachtet, findet man die doppelte Belichtung und die Überlagerung von unterschiedlichen Motiven als wiederkehrendes Element … ein Beweis für das enorme Interesse an modernsten Methoden der optischen Darstellung, wie sie sich gegenwärtig eben in der Augmented Reality entwickeln.
Inhaltlich verhandelt „Verrat der Bilder“ ein breites Spektrum: Allein die Lebensläufe der einstigen Haus-Erbauer und -Besitzer bilden (ebenso wie die Schicksale der anderen Bauhaus-Meister und -Schüler) die Größe und die Grenzen der Klassischen Moderne exemplarisch ab – von Schlemmers anfänglichem Ruhm und späterer Verfemung über Muches innere Emigration und Kolbes ambivalente Rolle im Nationalsozialismus bis hin zu Franz Ehrlich, der als KZ-Häftling in Buchenwald die zynische Tor-Inschrift „Jedem das Seine“ entwerfen musste … auch dies ein Zeugnis der vom Bauhaus inspirierten Typografie. Neben diesen biografischen Verwerfungen, angesichts derer ein „Verrat der Bilder“ auch ideologisch verstanden werden kann, sind aber auch jene ästhetischen Ansätze und Inhalte neu zu diskutieren, die heute unmittelbar mit dem Bauhaus und darüber hinaus mit der Kunst der 20er und 30er Jahre verknüpft werden – Fragen nach der Reduktion in der Formensprache, nach der von Adolf Loos schon 1908 behaupteten Beziehung zwischen „Ornament und Verbrechen“, nach dem Verhältnis von Figur und Klang im Raum, nach der synästhetischen Wahrnehmung und dem Menschen als Maß aller Dinge und Normen …
NICO AND THE NAVIGATORS, die ihre von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Produktion „Verrat der Bilder“ als Artists in Residence der Stiftung Bauhaus Dessau realisieren konnten, arbeiten dabei erneut mit Performern im Grenzbereich zwischen Sprache und Bewegung, in dem auch die historischen Vorbilder laborierten – sowie erstmals mit einer Technologie, die in einem solchen theatralen Zusammenhang weitgehend unerforscht ist. Eine besondere Rolle nimmt in Dessau und Berlin zudem der Außenbereich der Spielstätten ein, der sich auf überraschende Weise ähnelt: Wie die Bauhäusler wählte auch Georg Kolbe eine Kiefernschonung als Bauplatz für seine „Sensburg“, die trotz der Ziegelbauweise erstaunliche architektonische Parallelen zur Dessauer Siedlung erkennen lässt. Dass die einzelnen Szenen vor Ort dennoch angepasst werden müssen, lässt jede Station zum Schauplatz einer eigenen Uraufführung werden. Auch dies ist eine Herausforderung und ein besonderer Reiz von „Verrat der Bilder“.
„Dank aufwendig programmierte AR-Brillen wird die Zeitreise nicht nur textlich grundiert und fabelhaft gespielt, sondern eben auch durch verblüffende virtuelle Effekte der ‚Augmented Reality‘ in seiner Wirkung verstärkt … Es fügt sich auf dieser intelligenten, bildenden Zeitreise ein Kaleidoskop, das einen schlüssigen Eindruck von der Vielgestalt des Bauhauses gibt.“
Nun macht die innovative Theatergruppe Nico and the Navigators ihrem Namen einmal mehr Ehre: War das Hinauswagen ins Unbekannte, das Navigieren auf neuem Terrain von jeher das ästhetische Konzept des Kollektivs mit wechselnden Mitwirkenden, das vor 21 Jahren von Nicola Hümpel und Oliver Proske am Bauhaus Dessau gestartet ist, geht es auch jetzt mit der Produktion „Verrat der Bilder“ um eine künstlerische Expedition der besonderen Art. Das rund 70-minütige Stück hat die Matrix des Bauhauses, das vor 100 Jahren in Weimar gegründet wurde, zum Thema - und als doppelte Kulisse. Gespielt wird an und in den Meisterhäusern in Dessau, gespielt wird aber auch mit einer erweiterten Realität, die von Zeugnissen der Bauhäusler und der deutschen Geschichte bis in unsere von Technik geprägten Gegenwart reicht. Dank aufwendig programmierte AR-Brillen wird die Zeitreise nicht nur textlich grundiert und fabelhaft gespielt von Annedore Kleist, Patric Schott, Michael Shapira und Pauline Werner in wechselnden historischen Rollen, sondern eben auch durch verblüffende virtuelle Effekte der „Augmented Reality“ in seiner Wirkung verstärkt. Historischer Gemüsefond Da kann sich der Besucher, eingangs gestärkt durch einen von der Regisseurin Nicola Hümpel nach historischem Rezept persönlich geköchelten, köstlichen Gemüsefond, beim Aufstieg im Haus Muche/Schlemmer die Treppe mit farbigen Quadern, Pyramiden und Kugeln belegen. Später interagieren elektronische Darsteller-Klone mit den „echten“ Akteuren auf der Bühne. Die tragen, im Gegensatz zu den Zuschauern, keine Brillen, müssen sich aber in dieser bunten Gesellschaft aufs Stichwort bewegen und sich zu der virtuellen Wirklichkeit im fiktiven Spiel verhalten. Und man kann, einen multifunktionalen Stick in der Hand haltend, auch seine eigenen Bilder in den Raum malen. Das, was Oliver Proske, der üblicherweise für Bühne, Raum und Licht der Navigators-Produktionen zuständig ist, hier gemeinsam mit Programmierern „gebastelt“ hat, ist für beide Seiten, Künstler wie Publikum, herausfordernd. Aber der lustvolle Griff in die Möglichkeiten der Zukunft ist nicht nur ein Spiel, sondern hat natürlich einen unmittelbaren Bezug zur Geschichte des Bauhauses, das wiederum selbst ebenso gern spielerisch wie experimentell war, vielgestaltig sowieso - und auch widersprüchlich. All das kommt in den Zitaten der Bauhäusler direkt zur Sprache, einschließlich vorgeturnten Körperkults, esoterischer Abschweifungen, höchst sonderbar und gefährlich sektiererisch anmutender Regeln für die Zeugung gesunden, „hochwertigen“ Nachwuchses. Daneben stehen kritische Worte aus dem Bauhaus über das Bauhaus, zum Beispiel vom Gropius-Nachfolger und Verfechter des Neuen Bauens Hannes Meyer, der 1930 aus politischen Gründen als Direktor entlassen worden war. Vielgestalt wird plastisch So fügt sich auf dieser intelligenten, bildenden Zeitreise ein Kaleidoskop, das einen schlüssigen Eindruck von der Vielgestalt des Bauhauses gibt. Gertrud Grunow zum Beispiel, die eigentlich Sängerin war und sich am Bauhaus um die „Harmonisierungslehre“ kümmerte, kommt mit raunenden Sätzen wie diesem Wort: „Deutlich ist der gehemmte Intellektualist von dem strömenden naiven Menschen zu unterscheiden, deutlich die Wesensart der Frau von der des Mannes...“. Darüber kann man eine Weile nachdenken. Oder auch nicht. Ein Wort des Malers Lyonel Feininger hingegen lässt sich mühelos und gewinnbringend in die kulturpolitischen Debatten der Gegenwart weitersagen: „Kunst ist nicht Luxus, sondern Notwendigkeit“. Das trifft in vollem Umfang auch auf die Produktion „Verrat der Bilder“ zu, ein doppelsinniger Titel im Übrigen: Die Bilder, real-fiktionale wie virtuelle, verraten etwas über die Bauhäusler und ihren Ideenkosmos - und zugleich ist der Verrat an diesen Ideen und vielen ihrer Träger gemeint, die von den Nationalsozialisten gehasst, verfemt, verfolgt und auch getötet wurden. Am Ende des eindrucksvollen, gelungenen Spiels wird an die jüdischen Emigranten erinnert - und an jene Bauhäusler, denen die Flucht aus Deutschland nicht gelang. Porträts von Frauen und Männern liefert die AR-Brille nun. Und Bilder von KZ-Baracken. Da hilft die virtuelle Realität der Erinnerung an die Geschichte auf die Sprünge.
„’Verrat der Bilder‘ ist keine Hommage an das Bauhaus, keine Verneigung vor Gropius und den anderen, sich ‚Meister‘ nennenden Lehrer, die im Stück häufig beiläufig zitiert werden … Getrud Grunow und Karla Grosch gemeinsam sind es, die im Haus Muche mit den Machos abrechnen, die sich so fortschrittlich gebärdeten, aber es dann doch lieber bei den Rollenbildern beließen, die ihnen so wohlvertraut waren.“
Dessau / MZ - Irgendwie war alles Bauhaus, damals in den 1920er Jahren. Jedenfalls wenn man dem Städtemarketing und den Medien landauf, landab Glauben schenken will. Was immer irgendwo gemalt, gebaut, getischlert oder getöpfert wurde. Es war Bauhaus, wenn es nur keine Schnörkel besaß. Blödsinn und trotzdem richtig Das ist einerseits ausgemachter Blödsinn. Andererseits ist die Aussage, dass irgendwie alles Bahaus gewesen war, vollkommen richtig. Wenn man sie so trifft wie die Theatertruppe „Nico and the Navigators“ in ihrem neuesten Stück „Verrat der Bilder“. Vorab sei bemerkt: Wer Karten haben will, muss sich sputen, pro Aufführung gibt es nur 23 (in Worten dreiundzwanzig). Was der Enge der Spielorte - den Dessauer Meisterhäusern - Muche und Schlemmer geschuldet ist, der zu entkommen nicht einmal Augmented Reality hilft. Dazu später mehr. Für Nicola Hümpel ist „Verrat der Bilder“ eine Rückkehr ans Bauhaus. Ihre offizielle Vita verschweigt es zwar, doch vor ihrem Studium an der Hochschule für bildende Kunst in Hamburg besuchte sie Anfang der 90er Jahre die Bühnenklasse am Dessauer Bauhaus und inszenierte in Dessau ihr erstes Stück. Nun, knapp 30 Jahre später machen sie und ihre Mitstreiter Oliver Proske und Andreas Hillger das Bauhaus zum Thema. „Verrat der Bilder“ ist keine Hommage an das Bauhaus, keine Verneigung vor Gropius und den anderen, sich „Meister“ nennenden Lehrer, die im Stück häufig beiläufig zitiert werden. Johannes Itten (Michael Shapira) immerhin tritt auf, der Farbenmagier und Anhänger der esoterisch-rassistischen Mazdaznan-Lehre. Als sein Gegenpol wird Ernst Neufert (Patric Schott) aufgeboten, kurze Zeit Bauhausschüler und später einige Jahre Büroleiter bei Gropius. Ein Architekt, dessen Standardwerk heute einfach „Der Neufert“ heißt und das unter anderem penibel beschreibt, wie viel Plattz unter einem Möbelstück sein muss, damit Frau dort wischen kann: Neufert rollt ein kurzes Maßbahnd aus - zehn Zentimeter. In dem aber auch zu lesen ist, das Schweine in Ställen etwas zum Spielen benötigen, womit sich Neufert im Stück als der geeignete Mann erweist, Gropius’ letzten Entwurf vorzustellen: einen - kein Witz - Schweinestall für Philip Rosenthal, dem Chef des gleichnamigen Porzellanherstellers. Bauhaus - und es darf trotzdem gelacht werden? Bei „Verrat der Bilder“ ist das erlaubt. Wenn Itten und Neufert Bauhaus waren, dann ebenso Gertrud Grunow (Annedore Kleist) und Karla Grosch (Pauline Werner). Grunow führt die Besucher der Generalprobe in die Farbenharmonie ein und lehrt sie das Sehen mit Augmented-Reality-Brillen, die virtuelle Dinge mitten im Raum erscheinen lassen. „Sehen Sie die Kugel?“ Abrechnung mit den Machos Grosch hingegen feiert die „gesundheitlich gymnastische Durcharbeitung des Körpers“. Und beide gemeinsam sind die, dim im Haus Muche mit den Machos abrechnen, die sich so fortschrittlich gebärdeten, aber es dann doch lieber bei den Rollenbildern beließen, die ihnen so wohlvertraut waren.
Eine Produktion von Nico and the Navigators. Gefördert im Fonds Bauhaus heute der Kulturstiftung des Bundes und aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und Europa Berlin. In Kooperation mit der Stiftung Bauhaus Dessau, dem Georg Kolbe Museum, DOCK 11 EDEN***** und dem radialsystem. Projektentwicklung mit Unterstützung von PANTHEA.
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