Der Barbier von Sevilla

Staatsoper Hannover: Regisseurin Nicola Hümpel lenkt den Fokus auf die Ambivalenzen und Abhängigkeiten der Figuren, die sich in den absurdesten Situationen und Konstellationen begegnen.

„So sieht ein Triumph aus!“, titelte die Hannoversche Allgemeine Zeitung anlässlich der Premiere der Neuproduktion von Rossinis Opera buffa Il Barbiere di Siviglia im Januar 2020.Regisseurin Nicola Hümpel, Kopf des gefeierten Berliner Musiktheaterkollektivs Nico and the Navigators, lenkt den Fokus auf die Ambivalenzen und Abhängigkeiten der Figuren, die sich in den absurdesten Situationen und Konstellationen begegnen. Auf der Bühne geht es drunter und drüber: Doktor Bartolo setzt alles daran, sein Mündel, die junge und vermögende Rosina, von der Welt fern zu halten, um sie schnellstmöglich samt ihrem Vermögen heiraten zu können. Doch Rosina erweist sich als äußerst widerspenstig und ist wenig beeindruckt, als sie von den Hochzeitsplänen erfährt. Hat sie doch schon einen Brief vorbereitet, über den sie Kontakt mit jenem geheimnisvollen, nächtlichen Verehrer aufnehmen möchte, der sie mithilfe von allerlei Tricks und Maskeraden erobern will. Figaro, lokale Berühmtheit und hyperaktiver Alleskönner, steht bereit, jederzeit helfend einzugreifen und sich selbst bestmöglich vor der Kamera zu inszenieren … 

Mittels zweier Kameras, die Details auf der Bühne aufnehmen und auf der Leinwand vergrößert abbilden, wird dem Publikum das Bühnengeschehen und das ausdrucksvolle Spiel der Sänger*innen noch nähergebracht. So lässt die Kamera die Zuschauer*innen wie mit einer Lupe noch schärfer auf die komödiantischen Details blicken. Diese Art der Inszenierung zeigt leichtfüßig und poetisch, wie das große Bild und das kleine Detail, das Komische und Abgründige im musikalischen Theater Rossinis verschränkt sind.

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Pressestimmen

Peter Krause / Opernwelt

„Szenenanweisungen können auch beflügeln. Und wie. Nicola Hümpel und ihr kongenialer Bühnenbildner Oliver Proske beweisen es an der Staatsoper Hannover auf beglückende Weise … Das Gestenvokabular jedes Charakters ist genau aus der sehr persönlichen Körperlichkeit der einzelnen Sängerdarsteller abgeleitet … Die filmische Ebene schärft die chaplineske Präzision. Sie bringt selbst intimste Regungen ans Licht, verrät in ungewohnter Nähe, was uns auf der großen Opernbühne sonst verborgen bliebe … Das schönste Kompliment aber, das man der Produktion machen muss: Die Szene beflügelt die Musik, wir hören wieder frisch und unmittelbar, wie maximalinspiriert und humorgetränkt diese herrliche Partitur ist.“

Peter Krause / Opernwelt

Szenenanweisungen von Opernlibretti stehen bei Regieteams des 21. Jahrhunderts selten hoch im Kurs. Sie scheinen die interpretatorische Freiheit, die zu zeitgemäßen Sichtweisen führt, eher einzuschränken. Doch sie können auch beflügeln. Und wie. Nicola Hümpel und ihr kongenialer Bühnenbildner Oliver Proske beweisen es an der Staatsoper Hannover auf beglückende Weise. Rosinas finale Entführung aus dem Hause des Doktor Bartolo über «la scala del balcone» funktioniert eben erst dann so richtig, wenn es beides auch wirklich gibt. So will es bereits die erste Szenenvorgabe von Cesare Sterbini, der sich seinerseits auf Beaumarchais’ Komödienvorlage berief: Auf einer Piazza von Sevilla sollen wir in der Morgendämmerung das Haus des Bartolo erblicken – mit einem «praktikablen», will sagen: begehbaren Balkon. So oder ähnlich sah das Setting für Rossinis «Il barbiere di Siviglia» bereits ungezählte Male aus. Die Regisseurin und ihr Team bekennen sich dazu, vermeiden in ihrer konkreten Umsetzung nun freilich jegliche Gefahr von verstaubtem Traditionsverständnis. Denn das ständige gewiefte Belauschen und Bespitzeln, das opportunistische Intrigieren und Hintergehen der Figuren schreit ja eben auch nach dem erotischen Blick durchs Schlüsselloch, nach schnellen Perspektivwechseln – kurz: nach perfekter Komödienmechanik, die improvisatorisch wirken soll, aber absolut perfekt getimt sein muss. Durch den Einsatz der Drehbühne kreisen Rosina, Almaviva, Figaro und Bartolo beständig umeinander und gleichzeitig um die eigene Achse. Die Egozentrik, der Narzissmus, die Vorteilssuche aller Protagonisten wird spielerisch leicht offenbart; das Begehren und die ureigenen Interessen der Personage muss dabei nie bewertend hinterfragt werden. Der Geist der Commedia dell’arte entfaltet sich mit grundsätzlicher Zuneigung zu all den Befindlichkeiten und Beschränktheiten der Figuren. Während ein Herbert Fritsch bei Offenbach oder Mozart gern auf das tempomaximierte Überdrehtsein setzt, lauscht Nicola Hümpel bei Rossini deutlich sensibler dem Puls der Musik nach. Das Gestenvokabular jedes Charakters ist genau aus der sehr persönlichen Körperlichkeit der einzelnen Sängerdarsteller abgeleitet. Sunnyboy Dladla als Almaviva darf in seiner Auftritts-Cavatina «Ecco, ridente in cielo» mit punktgenau übertriebenen Operngesten schmachten. Der Sänger setzt seinen Tenore di grazia dabei herrlich leichtgängig mit der idealen Dosierung von süßem Schmelz ein. Hubert Zapiór gibt einen schwulen Friseur Figaro, der niemals ins billige Klischee verfällt, sondern in witziger Wendigkeit und Prahlerei seiner Kenntnisse die eigenen Underdog-Komplexe überspielt, die ihn als Faktotum in einer akademischen Gesellschaft quälen. Sein Kavaliersbariton hat Höhe, Attacke und Eloquenz. Seinem Gegenspieler Doktor Bartolo verleiht Frank Schneiders jenseits aller Bassbuffo-Karikatur die Züge eines früh in Bitterkeit gebrochenen Mannes, der seine Enttäuschung nun mit übergriffiger Fiesheit an der ihm anvertrauten Rosina auslässt. Dank der Selbstbestimmtheit der wahren Commedia-Capricciosa Nina van Essens, einem Vamp von raumgreifender Sopranagilität, hat dieser Bartolo indes von Anfang an kaum eine Chance. Figaros emanzipierte Schwester im gewitzten Geiste, die auch mal den verbotenen Mittelfinger erhebt, würde sogar fast mit dem Barbier anbandeln, wäre der nicht so deutlich vom anderen Ufer. Überhaupt werden hier sämtliche möglichen und unmöglichen Paarbildungsvarianten lustvoll durchgespielt. Zentrales Mittel des dramaturgischen Konzepts, das zwischen Ensemble-Rasanz und Arien-Poesie subtilen Ausgleich findet, sind die auf die Rückwand des Palazzo projizierten Live-Video-Close-ups der Figuren, die den Zusehenden noch den unscheinbarsten Augenaufschlag offenbart. Die filmische Ebene schärft die chaplineske Präzision. Sie bringt selbst intimste Regungen ans Licht, verrät in ungewohnter Nähe, was uns auf der großen Opernbühne sonst verborgen bliebe. Während wir uns im ersten Akt oft dabei ertappen, unser Auge nur der Video-Vergrößerung zu schenken, laden die Ensemble-Szenen des zweiten dazu ein, den Mehrwert beider Perspektiven zu nutzen. Womöglich würde der zeitweise Verzicht auf die mediale Dopplung, zumal im Sinne der ungebrochenen Gefühlswahrheit der Arien, diesen fantastischen Abend noch weiter stärken. Das schönste Kompliment aber, das man der Produktion machen muss: Die Szene beflügelt die Musik, wir hören wieder frisch und unmittelbar, wie maximalinspiriert und humorgetränkt diese herrliche Partitur ist. Eduardo Strausser dirigiert dazu einen federnd-akzentuierten, mit galanten Pianissimi angereicherten Rossini. Am Hammerklavier schlägt Francesco Greco aus den genau gearbeiteten Rezitativen mit improvisatorischem Freigeist Funken. Toll!

Ute Schalz-Laurenze / nmz

„Dieses Stück einer Frau anzuvertrauen, die sich in ihren preisgekrönten Performances und Installationen viel mit Musik beschäftigt, war eine gute Idee der Staatsoper Hannover. Denn Nicola Hümpel, Gründerin der seit zwanzig Jahren erfolgreichen Gruppe „Nico and the Navigators“ vermeidet in ihrer mit stehenden Ovationen bejubelten Arbeit jeglichen Versuch einer wie auch immer gearteten Theorielastigkeit.“

Ute Schalz-Laurenze / nmz

1816, das Uraufführungsjahr von Gioachino Rossinis „Der Barbier von Sevilla“, ist auch in Rom keineswegs ein gemütliches Jahr. Die napoleonischen Kriege waren vorbei, in die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden mischte sich die zensurscharfe Restauration. Michael Talke bot in Bremen vor vier Jahren eine Aufführung, in der er die Menschen in einem beispiellosen Egoismus zeigte und gleichzeitig der Absurdität und der Komik freien Lauf ließ. Dieses Stück einer Frau anzuvertrauen, die sich in ihren preisgekrönten Performances und Installationen viel mit Musik beschäftigt, war eine gute Idee der Staatsoper Hannover. Denn Nicola Hümpel, Gründerin der seit zwanzig Jahren erfolgreichen Gruppe „Nico and the Navigators“ vermeidet in ihrer mit stehenden Ovationen bejubelten Arbeit jeglichen Versuch einer wie auch immer gearteten Theorielastigkeit. Das mag man bedauern, das setzt aber Situationen frei, die dann ihrerseits doch sehr eindeutig sind. Die Szenen werden gefilmt und zeitgleich in riesiger Vergrößerung der Gesichter vor allem gezeigt. Doch was zunächst einmal wie ein nicht besonders einfallsreiches schauspielerisches Kammerspiel wirkt, verändert sich im Laufe der Aufführung zu einer immer stärker werdenden Komplexität von Bedeutungen. Denn die Bilder im Hintergrund verschränken sich mit der Aktion im Vordergrund: wenn zum Beispiel die arme Rosina ihre Wut gegen Bartolo vor seiner Übergröße raushaut – eine ganz kleine Frau gegen einen Riesen – auf einmal ein erschütterndes Bild. Oder wenn in einem Sextett im Hintergrund als Fadenzieher nur Figaro und Almaviva zu sehen sind. Und dann erscheinen auf einmal Bilder, die sehr wohl von der Einsamkeit der Menschen erzählen, so die Gewittermusik. Sie läuft ab vor drehenden abstrakten Formen und Landschaften (Bühne von Oliver Proske), die Menschen taumeln regelrecht darin: ihr „Gehirn als Vulkanausbruch“ oder „wie eine Feuerschmiede“, wie es im Text heißt. Oder auch ein wunderbares hoffnungsvolles Bild: Ein unglaublicher Wind weht alle in eine andere, hoffentlich bessere Zeit. Dass das alles so gut funktioniert, ist natürlich auch und besonders der musikalischen Aufführung zu verdanken: Einmal kann man vom Singen alles sehen, die Zunge, den Speichel, den Unterkiefer, die Zahnplomben, aber alle Sänger*innen bieten auch exzellente psychologische Studien in der Mimik. Nina van Essen, Sunnyboy Dladla und Hubert Zapiór sind neu im Ensemble: van Essen als Rosina ist eine Idealbesetzung, Dladla als Almaviva bietet durchgehend verzaubernde und unendlich komische Lebenslust und Zapiór als Figaro tobt mit einer immer auch ironischen – sein Ebenbild hat er an Oberarm tätowiert und küsst es auch mal – Selbstsicherheit und einem hinreißenden Gesang nur so durch die Szene. Frank Schneiders als Bartolo zeichnet eine empfindliche Lebensunsicherheit, Daniel Miroslaw als Basilio und Carmen Fuggiss als Berta ergänzen das Trio vortrefflich. Alles unterliegt der geschmeidigen Souveränität der musikalischen Leitung von Eduardo Strausser: er betont mit dem Staatsorchester alle Details, so dass eine brillante Genauigkeit einhergeht mit einer geradezu berauschenden Lebenslust. Es dauerte keine Minute, da stand das Publikum.

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