Oper Stuttgart: Der Komponist Philippe Boesmans und der Regisseur Luc Bondy haben 1993 Arthur Schnitzlers „Reigen“ in eine Oper verwandelt. In Stuttgart entwickeln Nico and the Navigators ihre eigene Version des Kreistanzes.
Zehnmal erschreckend banales Gerede vor und nach dem Sex. Und immer Angst, dass dieses Erlebnis nicht einzigartig sein könnte: „Warst du schon einmal mit jemandem hier? … Du erinnerst mich an wen. – So? An wen denn? … War in diesen Räumen schon einmal eine andere Frau?“
„Der Reigen“, das sind zehn mehr oder weniger erotische Treffen zwischen je einem Mann und einer Frau – wie in einem Kreistanz begegnen sich Dirne und Soldat zum „Zusammensein“, dann Soldat und Stubenmädchen, Stubenmädchen und Junger Mann … bis am Ende ein Graf wieder auf die Dirne trifft. Allen sozialen Unterschieden zum Trotz wiederholen sich Motive und Verhaltensweisen in erschreckender Weise: Man ziert sich, man hat es eilig, man macht so etwas eigentlich nicht. Und „danach“ weicht plötzlich der andere aus, wird grob oder entzieht sich mit belanglosen Sätzen. Zum Sex kommt es immer, zur Begegnung nur in Ausnahmefällen.
Arthur Schnitzler selbst verhängte ein Aufführungsverbot über seine 1897 geschriebenen Zehn Dialoge, das bis 1982 gültig war. 1993 wurde das Schauspiel von dem belgischen Komponisten Philippe Boesmans und dem Regisseur Luc Bondy zu einer Oper verarbeitet. Die raffiniert instrumentierte Musik fügt der Vorlage noch einigen Witz hinzu – und zeigt, dass auch Mücken einen erotischen „Reigen“ veranstalten.
Die Stuttgarter Inszenierung von Nicola Hümpel setzt auf eine raffinierte Verzahnung von Bühnenhandlung, Live-Video (Judith Konnerth) und ergänzenden Filmsequenzen… Im Verbund mit Oliver Proskes faszinierenden, subtil ausgeklügelten Räumen und Teresa Verghos schrägen Kostümen ergibt sich eine spektakuläre, ständig wechselnde Optik… Auf der Kippe zwischen existenziellem Ernst, grotesker Verfremdung und feiner Komik bleibt alles eng an Boesmans wundervoller Musik.
Stürmischen Beifall für alle Mitwirkenden gab es nach der Premiere von Philippe Boesmans’ „Reigen“ an der Stuttgarter Staatsoper. Knapp einen Monat vor dem 80. Geburtstag des belgischen Komponisten ist das Musiktheaterwerk nach Arthur Schnitzlers Skandalstück nun erstmals in Stuttgart zu erleben. Die musikalische Leitung hat – wie 1993 bei der Uraufführung in Brüssel – Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling. Die Stuttgarter Inszenierung von Nicola Hümpel setzt auf eine raffinierte Verzahnung von Bühnenhandlung, Live-Video (Judith Konnerth) und ergänzenden Filmsequenzen, die Hümpel und Konnerth mit den Darstellern Julia von Landsberg und Michel Shapira von der Berliner Musiktheaterkompanie Nico and the Navigators vorproduziert haben. Im Verbund mit Oliver Proskes faszinierenden, subtil ausgeklügelten Räumen und Teresa Verghos schrägen Kostümen ergibt sich eine spektakuläre, ständig wechselnde Optik. Zu Beginn kommen alle zehn Protagonisten dieser Partnertausch-Parabel stumm zur Szene herein, stellen sich in einer Reihe auf, beschnuppern und begrapschen sich und offenbaren dabei jeweils persönliche Eigenheiten und Verklemmtheiten. Noch sind sie für das Publikum unbeschriebene Blätter. Szene für Szene lernen wir dann in wechselnden Mann-Frau-Kombinationen einen nach der anderen kennen. In der Folgesituation ist jeweils eine Gestalt bereits vertraut, die andere noch nicht. Und jede neue Konfrontation enthüllt auch bei den schon eingeführten Persönlichkeiten weitere, manchmal entlarvende Seiten. Der Schweizer Regisseur Luc Bondy hat die Dialoge für Boesmans Oper mit feinem Gespür für Erfordernisse einer Vertonung und viel Wortwitz aus Schnitzlers Drama destilliert. Selten begegnet man einem so intelligenten Libretto. Opulente Musik Da wird geschmeichelt, geprotzt oder gelogen, dass sich die Balken biegen. Banalitäten treffen auf haltloses Räsonieren, verführerische Andeutungen auf Selbstmitleid, Sexgier auf Sehnsucht nach Liebe. Meist weicht man Fragen aus, redet aneinander vorbei, lebt in verschiedenen Welten und ist mehr an sich selbst als am Gegenüber interessiert. Kleine Änderungen einzelner Worte verdrehen den Sinn, soziales Gefälle tritt zutage. Doch bei aller Demaskierung der Charaktere wird niemand der Lächerlichkeit preisgegeben. Für die Musik bietet das viel Spielraum. Boesman hat ihn genutzt. Sowohl im vokalen als auch im orchestralen Bereich gibt er dem Affen Zucker. Aus dem Graben tönt es opulent, farbenreich und rhythmisch griffig, auch humorvoll oder melancholisch. Die glänzend instrumentierte Partitur leuchtet differenziert ins Seelenleben der Figuren. Sie erlaubt sich sublime Adaptionen tonaler Idiome bis hin zu Jahrmarktklängen. Der Gesang setzt auf süffige Kantilenen und beste Textverständlichkeit. Cambreling erweist sich als feinfühliger Anwalt dieser prallen, wirkungsmächtigen, eminent theatertauglichen Klangräume. Lauryna Bendziunaite (Dirne), Daniel Kluge (Soldat), Stine Marie Fischer (Stubenmädchen), Sebastian Kohlhepp (junger Herr) und Kora Pavelic (süßes Mädel) singen und spielen großartig. Besonders beeindruckend sind Rebecca von Lipinsky (junge Frau), Shigeo Ishino (Gatte), und Matthias Klink (Dichter). Melanie Diener ist als hysterisch-eitle Sängerin eine Wucht ebenso wie André Morsch als neurotischer Graf. Insgesamt ist diese Produktion ein Volltreffer in jeder Beziehung. In Hümpels einfallsreicher Inszenierung begegnet Sigmund Freuds Wien der Cyber-Gegenwart. Kunstvoll konstruierte Engführungen von Szene und Video schaffen vielfache Perspektiven. Personenführung und Mimik sind minutiös einstudiert. Als Pendant zum Reigen der Paarungen dient die Drehbühne mit vorüberfahrenden Zwischenwänden. Auf der Kippe zwischen existenziellem Ernst, grotesker Verfremdung und feiner Komik bleibt alles eng an Boesmans wundervoller Musik.
Schnitzlers pessimistischer „Reigen“, ironisiert von Luc Bondy und Philippe Boesmans und neuerlich mit leichter Hand und ohne erhobenen Zeigefinger hinterfragt von Nicola Hümpel, endet im 21. Jahrhundert nicht allein mit kaltem Begehren, Vereinzelung und Verzweiflung, sondern mit einer leisen, warmen Drehbewegung voller Emotion. Deren Triebkraft ist, möglicherweise, dann doch so etwas wie Liebe.
Mirko Weber, 25.04.2016
In der intelligenten Stuttgarter Neuinszenierung von Philippe Boesmans „Reigen“, nach Arthur Schnitzler und Luc Bondy, zeigt die Regisseurin Nicola Hümpel, dass sie eine leichte Hand, viel Gefühl und einen scharfen Verstand hat. Im Theater sind fünf Minuten eine lange Zeit, wenn keiner etwas sagt und in der Oper auch noch die Musikanten schweigend dabeisitzen. Im Stuttgarter Großen Haus jedoch, so fängt es schon mal gleich fabelhaft an in der Inszenierung von Philipp Boesmans’ Musiktheaterstück „Reigen“, zieht sich das stumme Vorspiel keine Sekunde. Unter einem abgehängten Dach proben nämlich zehn Darsteller für die folgenden Szenen eine Erstaufstellung. Mann und Frau, Frau und Mann. Man beäugt, bewegt, beschnuppert sich. Schließlich ist was dran an dem Satz, dass Leute sich irgendwann nicht mehr riechen können. Aber das wird erst später sein. Momentan schlägt ihnen allen hier noch die Stunde, in der sie nichts voneinander wissen: die Dirne nichts vom Soldaten, Frau Emma nichts vom jungen Herrn und der Dichter Robert nichts von der Sängerin, die bei Doktor Arthur Schnitzler, der den „Reigen“ 1896 schreibt, noch eine Schauspielerin ist. Zwei Jahre nachdem das Stück 1920 dann doch in Berlin uraufgeführt (und sofort verboten) wird, schreibt Sigmund Freud, der vorher nicht immer nur Sympathien für Schnitzlers theatralische Sendung und Seelenarbeit hatte: „Ihr Ergriffensein von der Triebnatur des Menschen, ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften ihrer Gedanken an der Polarität Liebe und Sterben, das alles berührt mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.“ Kein Wunder deshalb, dass einer der größten Psychoanalytiker auf dem Theater, der im letzten Jahr verstorbene Regisseur Luc Bondy, vor knapp einem Vierteljahrhundert an der Brüsseler Oper die Vorlage leicht komödiantisch-boulevardesk verknappte und nach dem Witz suchte, wo man ihn am wenigsten vermutet: postkoital, wenn der Mensch als Tier angeblich durchweg traurig ist. Bondy fand das auch zum Lachen, und ebenso ging es dem damals bereits länger vom Musiktheater-Neuerfinder Gerard Mortier geförderten, aus der Nähe von Lüttich stammenden Komponisten Philippe Boesmans, der eine kurios versponnene, zitatreiche, handwerklich meisterhaft bestückte Partitur ablieferte, die von Frankfurt bis Amsterdam nachgespielt wurde. Im Theater sind fünf Minuten eine lange Zeit, wenn keiner etwas sagt und in der Oper auch noch die Musikanten schweigend dabeisitzen. Im Stuttgarter Großen Haus jedoch, so fängt es schon mal gleich fabelhaft an in der Inszenierung von Philipp Boesmans’ Musiktheaterstück „Reigen“, zieht sich das stumme Vorspiel keine Sekunde. Unter einem abgehängten Dach proben nämlich zehn Darsteller für die folgenden Szenen eine Erstaufstellung. Mann und Frau, Frau und Mann. Man beäugt, bewegt, beschnuppert sich. Schließlich ist was dran an dem Satz, dass Leute sich irgendwann nicht mehr riechen können. Aber das wird erst später sein. Momentan schlägt ihnen allen hier noch die Stunde, in der sie nichts voneinander wissen: die Dirne nichts vom Soldaten, Frau Emma nichts vom jungen Herrn und der Dichter Robert nichts von der Sängerin, die bei Doktor Arthur Schnitzler, der den „Reigen“ 1896 schreibt, noch eine Schauspielerin ist. Zwei Jahre nachdem das Stück 1920 dann doch in Berlin uraufgeführt (und sofort verboten) wird, schreibt Sigmund Freud, der vorher nicht immer nur Sympathien für Schnitzlers theatralische Sendung und Seelenarbeit hatte: „Ihr Ergriffensein von der Triebnatur des Menschen, ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften ihrer Gedanken an der Polarität Liebe und Sterben, das alles berührt mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.“ Kein Wunder deshalb, dass einer der größten Psychoanalytiker auf dem Theater, der im letzten Jahr verstorbene Regisseur Luc Bondy, vor knapp einem Vierteljahrhundert an der Brüsseler Oper die Vorlage leicht komödiantisch-boulevardesk verknappte und nach dem Witz suchte, wo man ihn am wenigsten vermutet: postkoital, wenn der Mensch als Tier angeblich durchweg traurig ist. Bondy fand das auch zum Lachen, und ebenso ging es dem damals bereits länger vom Musiktheater-Neuerfinder Gerard Mortier geförderten, aus der Nähe von Lüttich stammenden Komponisten Philippe Boesmans, der eine kurios versponnene, zitatreiche, handwerklich meisterhaft bestückte Partitur ablieferte, die von Frankfurt bis Amsterdam nachgespielt wurde.
Der belgische Komponist Philippe Boesmans schrieb zudem durchaus Musik auch für die Zeit zwischen dem Davor und dem Danach, um die es bei Schnitzler geht…Ungemein liebevoll löst das in Stuttgart Regisseurin Nicola Hümpel. Menschen versinken in Matratzen, flutschen vom selbsttätigen Bett, verschlingen sich extraordinär, hantieren wie von ungefähr mit phallisch verformten Sofakissen, rollen sich im Moorbad, und sie kauen tatsächlich auch auf einem Wiener Würstchen herum.
Auch die temporäre Verblödung, die der Liebesakt mit sich bringt: Die Oper Stuttgart bereitet Philippe Boesmans’ lukullischer Schnitzler-Oper „Reigen“ einen pfiffigen Auftritt. Der Skandal, den die Uraufführung von Arthur Schnitzlers „Reigen“ vor 96 Jahren auslöste, ist zwar nicht mehr vorstellbar. Gekicher begleitet zumeist aber bis heute die promiskuitiven Vorgänge quer durch die gesellschaftlichen Schichten und ist ebenfalls ein Zeichen von Verlegenheit. Der belgische Komponist Philippe Boesmans schrieb zudem durchaus Musik auch für die Zeit zwischen dem Davor und dem Danach, um die es bei Schnitzler geht. Regisseuren gibt er damit die Gelegenheit und Aufgabe, eine irgendwie geartete Sexszene nach der anderen zu zeigen, um es einmal blank auszudrücken. Ungemein liebevoll löst das in Stuttgart Regisseurin Nicola Hümpel. Menschen versinken in Matratzen, flutschen vom selbsttätigen Bett, verschlingen sich extraordinär, hantieren wie von ungefähr mit phallisch verformten Sofakissen, rollen sich im Moorbad, und sie kauen tatsächlich auch auf einem Wiener Würstchen herum. Der Mensch tut, was er kann, aber letztlich reicht es doch nicht. Auf einer Videoleinwand, einer endlich einmal sinnig und unverschämt eingesetzten Videoleinwand, sieht man die Gesichter in Nahaufnahme. Nacktes Entsetzen kann sich auf ihnen spiegeln, die temporäre Verblödung, die der Liebesakt mit sich bringt, die Hässlichkeit der Gier. Die Musik echot sich selbst und andere Dazu rauscht, zirpt, klimpert die Musik und echot sich selbst und andere. Ersteres in einem Gespinst aus Motiven, die von einer Szene in die nächste herüberzuwehen scheinen. Zweiteres in einem hohen Zitataufkommen, direkt – die „Salome“-Verballhornung „Man töte diese Mücke“ – und indirekt durch Wagner- oder Bach-Imitate. Die Figuren, erotisch animiert, sind pathetisch hochgestimmt nach Art des Jahres 1920. Und neuere Avantgarde ist ohnehin nicht das Thema, wenn Boesmans auf den Spielplan kommt. Stattdessen zeigt sich, wie die relativ tonale Oper beim (in Stuttgart nach gut drei Stunden begeisterten) Publikum eine Zukunft über das bereits Bekannte hinaus haben könnte. Debussy’scher Impressionismus und Richard-Strauss-Rauschmittel werden ins Heute verlängert und mit Frechheiten angereichert (was bereits Strauss nicht fremd war). Die Wirkung ist unmittelbar und originell, auch wenn Epigonales darinsteckt und überhaupt nicht versteckt wird. Farbig und edel rollt das Staatsorchester Stuttgart Boesmans lukullische Musik unter der Leitung von Sylvain Cambreling aus, der die Uraufführung 1993 in Brüssel dirigierte. Luc Bondy lebt nicht mehr, der Librettist, der Schnitzlers Text aufpeppte und auch gewiss nicht vorhatte, ihn zu vertiefen oder stärker zu durchgeistigen. Komponist Boesmans reiste aber an, und Kollegen wollen Tränen der Rührung in seinen Augen gesehen haben. Wenige neue Opern haben 23 Jahre nach der Uraufführung noch einmal Gelegenheit, aufzutrumpfen. Das Konzept Hümpels ist bedingungslos komödiantisch, aber noch das Albernste ist wohleingerichtet. Was ist das Albernste? Vielleicht die, äh, aus Schaumgummi geformten, langsam sich ausfahrenden Penisse? Das Maßgeschneiderte zeigt schon das perfekte Bühnenbild von Oliver Proske. Die knapp am Wahrscheinlichen vorbeigehenden Möbel für die jeweilige Szene kommen auf einer Drehbühne hereingefahren, zwischen Raumteilern mit lustigen Tapeten, zwischen denen Betten, Tische, Menschen mittels exakt ausgesägter Löcher durchpassen. Oder auch nicht, dann fällt die Stehlampe beim Weiterrollen der Bühne langsam um, wie auch dem Manne nicht in jeder Situation Stabilität beschieden ist. Fünf Solistinnen und fünf Solisten tun sich stimmlich mit ihren übersichtlichen, aber substanziellen Auftritten wunderbar leicht und sind auch schauspielerisch sehr gefordert: Lauryna Bendziunaite (eine feine Dirne) und Daniel Kluge (ein kompakter Soldat), Stine Marie Fischer (ein resolutes Stubenmädchen) und Sebastian Kohlhepp (ein tropfiger junger Herr), Rebecca von Lipinski und Shigeo Ishino (ein urkomisches Ehepaar), Kora Pavelic (ein äußerst zielorientiertes süßes Mädel) und Matthias Klink (ein Narzissmus und Selbstironie treffliche einender Dichter), Melanie Diener (eine Diva in Ton und Bewegung) und André Morsch (ein Helge-Schneider-hafter Graf). Dass den Akteuren auf der Bühne in ihrer menschlichen Unzulänglichkeit ein zartes Leinwand-Liebespaar (Julia von Landsberg und Michael Shapira) gegenübergestellt wird, ist nicht zwingend, aber auch nicht läppisch. Dass Hümpel sich einen Spaß daraus macht, durch Requisiten-Wiederholungen noch andere außer den gezeigten Liebespaarungen anzudeuten, geht ebenso in Ordnung. Vielfalt ist die Devise des Abends, Alpträumchen sind dabei. Aber die finsteren Seiten des Begehrens, Profitierens, Ausbeutens haben hier keinen Ort, nicht bei Bondy, nicht bei Boesmans, nicht bei Hümpel.
…zugängliche, lichte, immer wieder auch ironische Musik, die blitzschnell umschaltet zwischen Pathos und Lakonie…. Die Regisseurin Nicola Hümpel vom Berliner Musiktheaterensemble „Nico and the Navigators“ greift diese musikalische Ironie auch szenisch auf, was dem umjubelten Premierenabend eine Leichtigkeit verleiht und mehrfach lautes Lachen im Publikum provoziert. Dass sich neben der Drehbühne auch musikalisch manches im Kreis dreht und die eine oder andere Szene Längen hat, ist der Vorlage geschuldet. Handwerklich ist diese Musiktheaterproduktion perfekt gearbeitet. Und auch im Orchestergraben herrscht Präzision.
Ein Skandalstück ist Arthur Schnitzlers 1920 in Berlin uraufgeführte Komödie "Reigen", die zehn sexuelle Begegnungen von Mann und Frau beschreibt, schon lange nicht mehr. Sex außerhalb der Ehe ist in Deutschland längst kein Aufreger mehr, sondern gesellschaftliche Normalität. Dennoch hat Schnitzlers ernüchternde Sicht auf die Liebe in Zeiten des Online-Datings nichts an Aktualität verloren. Dies ist am Stuttgarter Opernhaus zu erleben, wo nun 23 Jahre nach ihrer Brüsseler Uraufführung Philippe Boesmans gleichnamige Oper (Libretto: Luc Bondy) anlässlich des 80. Geburtstags des belgischen Komponisten Premiere hatte. Am Pult des Staatsorchesters Stuttgart steht, wie bei der Uraufführung, Sylvain Cambreling. Der Franzose hat ein gutes Händchen für dessen zugängliche, lichte, immer wieder auch ironische Musik, die blitzschnell umschaltet zwischen Pathos und Lakonie. Und die einen herrlichen Humor entwickelt, wenn beispielsweise beim Zusammentreffen von Graf und Sängerin in der neunten Szene der Ex-Lover anruft und dessen verzerrte Telefonstimme von einer gedämpften Posaune nachgeahmt wird. Die Regisseurin Nicola Hümpel vom Berliner Musiktheaterensemble "Nico and the Navigators" greift diese musikalische Ironie auch szenisch auf, was dem umjubelten Premierenabend eine Leichtigkeit verleiht und mehrfach lautes Lachen im Publikum provoziert. Dass sich neben der Drehbühne auch musikalisch manches im Kreis dreht und die eine oder andere Szene Längen hat, ist der Vorlage geschuldet. Handwerklich ist diese Musiktheaterproduktion perfekt gearbeitet. Und auch im Orchestergraben herrscht Präzision. Oliver Proske hat für den "Reigen" einen zunächst leeren Bühnenraum entworfen, der nach und nach mit Requisiten und Wänden gefüllt wird. Die Drehbühne schafft fließende Übergänge. Die einzelnen Szenen hinterlassen Spuren. Ein pinkfarbener String taucht immer wieder auf wie eine Erinnerung. In der letzten Szene, als der Graf auf die Dirne trifft, die den Liebesreigen mit dem Soldaten eröffnet hatte, finden sich auch eine Socke, Dosen und Schuhe von früheren Begegnungen (Kostüme: Teresa Vergho). Und korrespondieren mit vergangenen musikalischen Motiven, die hier ebenfalls wieder erklingen. Neben den zehn Protagonisten, die zu Beginn alle auf der Bühne stehen und sich schon einmal beschnuppern, ist mit Julla von Landsberg und Michael Shapira immer wieder ein zusätzliches Tanzpaar per Video zu sehen; es setzt die verschiedenen Variationen der Begegnung in berührende Choreographien um. Zusätzlich gibt es zwei Live-Kameras, die die Mimik der Paare einfangen (Video: Judith Konnerth/Nicola Hümpel). Grandios umgesetzt ist diese Idee beim Cybersex am Laptop zwischen dem eitlen Dichter (Matthias Klink) und dem süßen Mädel (Kora Pavelic), wenn die erregten, nach dem Höhepunkt debilen Gesichtszüge des einen auf der Leinwand dem skeptischen, völlig unbeteiligten Blick der anderen gegenübergestellt werden. Nach den Sexdates wird noch ein Selfie geschossen, ehe es wie auf dem Smartphone weggewischt wird. Der nächste Partner kann kommen. Die Stuttgarter Produktion ist grandioses Ensembletheater. Acht der zehn musikalisch wie darstellerisch präsenten Akteure sind Mitglieder des Hauses. Die Gäste Melanie Diener als divenhafte, hochdramatische Sängerin und die Mezzosopranistin Kora Pavelic fügen sich nahtlos in diesen Reigen. Den eigentlichen Geschlechtsakt hat Arthur Schnitzler im Text mit drei Pünktchen nur angedeutet. Boesmans dreistündige Oper füllt diese Leerstelle mit oft ganz lyrischer, schwebender Musik, die den Figuren doch Emotionen lässt. Fast kann man an die Liebe zwischen der jungen Frau (Rebecca von Lipinski) und dem Gatten (Shigeo Ishino) glauben, ehe sich die Gattin doch verdächtigt macht, als sie ihn nach vollendetem Ehevollzug mit dem falschen Vornamen anspricht. Tücken hat auch das Treffen zwischen dem jungen Mann in Safarihemd und Shorts (Sebastian Kohlhepp) und dem Stubenmädchen (Stine Marie Fischer), bei dem die sirrenden Mücken, dargestellt von am Steg gespielten Streichertremoli, mehr Energie entfalten als die schlaffen Liebenden. In der nächsten Szene findet sich Kohlhepp in einer loriotesken Sitzgruppe wieder und kämpft mit Schaumstoff-Kissen um die richtige Stellung und eine adäquate Erektion. Als sich das verknotete Kissen schließlich erhebt und die Trompeten dazu den Choral "Was Gott tut, das ist wohlgetan" schmettern, ist das kurze Glück perfekt, ehe sich das nächste Liebesdesaster anbahnt.
Wie neu nämlich, blitzgescheit gedacht erscheint das Werk in der Lesart der Regisseurin Nicola Hümpel, die mit beeindruckenden Perspektivwechseln, Witz, Gefühl und nicht nur nebensächlicher, sondern ästhetisch prägender Videoarbeit die Szene belebt.
In Anwesenheit des belgischen Komponisten Philippe Boesmans hat die Staatsoper Stuttgart sein Musiktheaterwerk „Reigen“ um verkorkste Beziehungskisten als Tragikkomödie aufgeführt. Ein großer Abend. Stuttgart - Zeitgenössische Opern, einmal uraufgeführt, setzen sich selten an anderen Opernhäusern durch. Ausnahmen bestätigen, wie stets, die Regel, und eine dieser Ausnahmen stellt, intelligent interpretiert, Philippe Boesmans Version des „Reigen“ nach Doktor Arthur Schnitzler dar, dessen historisch verstörenden Theatertext vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sich der Regisseur Luc Bondy vor 23 Jahren in Brüssel zeitgenössisch hin arrangierte. Allerdings sind 23 Jahre auch wieder eine lange Zeit, die jetzt in Stuttgart aber gar keine Rolle mehr spielt. Wie neu nämlich, blitzgescheit gedacht erscheint das Werk in der Lesart der Regisseurin Nicola Hümpel, die mit beeindruckenden Perspektivwechseln, Witz, Gefühl und nicht nur nebensächlicher, sondern ästhetisch prägender Videoarbeit die Szene belebt. Von B wie Bendziunaite bis P wie Pavelic ist das alles hochgradig durchdachtes Opernschauspieltheater, musikalisch en detail ausgehört vom Dirigenten Sylvain Cambreling mit dem Stuttgarter Staatsorchester. Beim finalen „Servus!“ im zehnten Bild denkt man sich erfreut, dass der Abschied hier auch immer wieder einen Anfang bedeutet. Den man gern wieder sähe/hörte. Großer Abend, beste Stimmung.
Jetzt ist dieser „Reigen“ endlich im Stuttgarter Opernhaus zu erleben, zu entdecken…
Sex auf der Opernbühne? Da klemmt's oft bei diesen Menschen. Aber die Musik von Philippe Boesmans ist potent. Der "Reigen" umjubelt in Stuttgart. Die Dirne hat Sex mit dem Soldaten. Und der mit dem Stubenmädchen Mizzi, das es danach mit dem jungen Herrn treibt, der sich dann mit der jungen Frau im Hotel verabredet, die später im Ehebett mit ihrem Gatten Gottfried liegt. Der Gatte trifft auf das süße Mädel, dieses auf den gehemmten Dichter, jener auf die Schauspielerin. Dann hat die Schauspielerin auch ein Rendezvous mit dem Grafen - und der volltrunken mit der Dirne. Der "Reigen" schließt sich. Arthur Schnitzler hat das berühmte Stück noch im donaumonarchischen Wien geschrieben, Ende des 19. Jahrhunderts, es geht um Verführung und Verletzlichkeit, um Verlangen und Überdruss, um Sehnsucht und Enttäuschung, aber eher um die biologische "Mechanik" und weniger um eine erotische Begegnung, eher um Frust als um Liebe und glückvolle Befriedigung. Und das alles die sozialen Schichten rauf und runter. Das ist der Befund: Es kommt zum Sex, aber dann schnell zur Flucht. Dieser "Reigen" galt lange als skandalös und unaufführbar, kam dann 1920 am Kleinen Schauspielhaus Berlin der Gertrud Eysoldt auf die Bühne, es folgte ein Strafprozess, und der entnervte Schnitzler untersagte von 1922 an urheberrechtlich alle weiteren Aufführungen, was bis 1982 galt. So - aber jetzt stellen wir uns mal vor, der "Reigen" wäre in den 20er Jahren ein richtiger Dauerbrenner geworden und ein davon faszinierter Komponist Alban Berg hätte nicht nur Büchners "Wozzeck" verkomponiert, sondern frech und mit Humor auch eine komische Schnitzler-Oper geschaffen, also zumindest eine tragikomische: mit der Klangsprache einer atonal-melodischen Wiener Schule, aber auch mit ironischen Zitaten aus der halben Musikgeschichte und einer ordentlichen Portion expressionistischem Zeitgeist der Marke Franz Schreker. Nein, Alban Berg tat das nicht, auch keiner seiner Kollegen aus jener Zeit. Aber die Oper gibt's trotzdem, nur wurde sie dergestalt vom Belgier Philippe Boesmans komponiert auf ein Libretto Luc Bondys und 1993 in Brüssel uraufgeführt. Jetzt ist dieser "Reigen" endlich im Stuttgarter Opernhaus zu erleben, zu entdecken. Ein verschleppter Klassiker der Moderne gewissermaßen. Boesmans ist ein begnadeter Theatermusiker, er kann illustrieren, er ist lyrisch und er hat Witz: Der nervöse junge Herr verflucht nicht das Weib, sondern im selben "Salome"-Tonfall des Herodes die ihn umsummenden Insekten: "Man töte diese Mücke!" Den lange ersehnten Erfolg des erektionsgestörten jungen Herrn feiert das Orchester dann mit dem Choral "Was Gott tut, das ist wohlgetan" und barock triumphalen Trompeten. Das ist ziemlich viel Oper: überragend gespielt vom Staatsorchester unter der Leitung Sylvain Cambrelings. Der war schon der Uraufführungsdirigent, spielte das Werk auch in seiner Zeit als Frankfurter Opernchef und kennt jede Nuance, jede Stimmungslage, jeden Effekt. Eine sehr klangplastische, pointierte Premiere war das. Großer Applaus - auch für den sich verbeugenden, sehr gerührten 79-jährigen Komponisten Boesmans. Bestens aufgelegt agierte das Stuttgarter Ensemble: darunter Rebecca von Lipinski als die junge Frau, Kora Pavelic als herrlich glupschäugig-naives süßes Mädel und Matthias Klink als grotesk triebgesteuerter Dichter. Und Melanie Diener gibt emphatisch die Primadonna - in der Oper ist die Schauspielerin eine Sängerin, die zumindest lustvoll Koloraturen probt. Das Grimassenspiel der Akteure sorgt für Lacher. Der Zuschauer darf dank virtuoser Video-Kunst nah dabei sein in dieser Koproduktion der Oper Stuttgart mit "Nico and the Navigators" aus Berlin. Regisseurin Nicola Hümpel und ihr Team zeigen den "Reigen" stylish designed und auch ein bisschen trashig aufgepeppt im Handy-Zeitalter. Keine Schocker-Inszenierung, kein Opern-Porno, sondern ein ernstes Lust-Spiel. Und nach jeder Szene muss eine Figur den Schauplatz verlassen: ein letzter Schnappschuss, dann wischt eine Hand das Bild smartphonemäßig weg. Ein Tänzerpaar wiederum, Mann und Frau als romantisches Gegenbild wirklicher erotischer Zweisamkeit, wird ebenso per Video eingeblendet: immer dann, wenn sich die realen Akteure in ihrer Unfähigkeit zu lieben verheddern. Gerne auch auf tückischem Mobiliar, auf schaukelnden Sofa-Wippen oder dem sich zerlegenden Ehebett. Die Einrichtung fährt auf der Drehbühne durch die Wände diverser Räume - ein ganz eigener Reigen. Alles hohl, surreal. Wie die Liebesrituale.
Dafür lässt Hümpel sich intensiv auf die Atmosphäre der Partitur ein und sucht ebenfalls nach Leichtigkeit. Wozu nicht zuletzt die leicht irrsinnigen Kunststoffmöbel beitragen, die man schon von „Nico and the Navigator“ kennt. Der Bühnenbildner Oliver Proske zwingt die Szenen nicht in ein Einheitsbühnenbild, sondern lässt die Räume spielerisch auseinander hervorgehen…Das wirkt manchmal vielleicht etwas harmlos, ist dafür aber auch nie bedeutungsschwanger. Zeitgenössische Oper als Publikumserfolg, wie schön.
Am Perversesten treiben es mal wieder die Künstler. Nachdem die Sängerin und der Dichter sich in einer riesigen Badewanne mit einer dunklen Masse bekleckst haben, diskutieren sie über den Unterschied zwischen altmodischen Opern und modernem Repertoire. Höchst wahrscheinlich ironisiert sich Komponist Philippe Boesmans damit in seiner Oper "Reigen" auch selbst. Denn Boesmans Opern folgen dem klassischen Modell der Literaturoper, für das er vor allem Theaterstücke der frühen Moderne adaptiert, gern solche, die in die Abgründe menschlicher Sexualität hinableuchten. Der Erfolg gibt ihm Recht, für einen Gegenwartskomponisten wird Boesmans ziemlich oft nachgespielt. Zu seinem am 17. Mai anstehenden achtzigsten Geburtstag hat die Oper Stuttgart den 1993 in Brüssel uraufgeführten "Reigen" in den Spielplan genommen, nach dem berühmten, noch immer halb auch berüchtigten Stück Arthur Schnitzlers. Der im vergangenen November verstorbene Theaterregisseur Luc Bondy hatte es zum Libretto umgearbeitet, wobei er die Grundstruktur unangetastet ließ: In zehn Szenen begegnen sich je zwei Menschen in aufsteigender sozialer Schichtung. Mögen die sprachlichen Codes dabei immer komplizierter werden, so laufen die Szenen am Ende doch immer auf das Eine hinaus: auf die wahrscheinlich berühmtesten Bindestriche der Weltliteratur. Boesmans übersetzt sie in die Stimmen eines aus dem Off singenden Paars, das sich in Versen aus dem biblischen Hohelied vokal umschlingt. Da hatte Richard Strauss in der Einleitung zum "Rosenkavalier" - entstanden nur wenige Jahre nach dem "Reigen" - in Sachen Sexualdrastik schon deutlich heftiger zugelangt. Ansonsten aber dürfte Strauss als stilistisches Vorbild durchgehen. Auch Boesmans verhandelt erotisches Begehren als leichthändiges Spiel, das dabei zu einem selbstreferenziellen über Musik wird. Ironisch zitiert er sich durch die halbe Musikgeschichte. Noch in der akustischen Dauerpräsenz der Terz als bestgehasstem Intervall der Moderne steckt ein Stück Koketterie. Die Figuren kommen bei Boesmans aus den unterschiedlichsten musikalischen Welten, was teilweise die dem Rotstift beziehungsweise der Gattung Oper zum Opfer fallende sprachliche Differenzierung Schnitzlers ausgleicht. So ruht der junge Herr (Sebastian Kohlhepp) auf breiten Streicherakkorden, während das Stubenmädchen (Stine Maria Fischer) ihm den Swing ins Haus bringt. Die autoritären Linien des verlogenen Ehemanns (Shigeo Ishino) werden nur von wenigen Orchestereinwürfen gestützt, während seine Gattin (Rebecca von Lipinksi) deutlich von der zur Schnitzler-Zeit handelsüblichen Hysterie gezeichnet ist. Anzeige Doch sorgt der Eklektizismus der Mittel auch dafür, dass der Partitur auf Dauer ein eigenes Gesicht fehlt. Die Komposition meldet kein formales Gegengewicht gegen die Szene an. Im klassischen Orchesterapparat siegen am Ende allzu oft die Violinen. Am Dirigenten Sylvain Cambreling liegt es jedenfalls nicht. Der Stuttgarter Generalmusikdirektor, der einst bereits die Brüsseler Uraufführung geleitet hatte, leuchtet die Partitur mit dem Staatsorchester Stuttgart maximal klangsinnlich aus. Dafür beherrscht Boesmans tatsächlich, was vielen Gegenwartskomponisten schwer fällt: Er kann für Stimmen schreiben, was ihm die Sänger mit einer beeindruckenden Ensembleleistung danken. Da lockt die Dirne (Lauryna Bendžiūnaitė) in gurrenden Koloraturen, während der Soldat (Daniel Kluge) eher geradlinig rezitiert. Da ergeht sich die Sängerin (Melanie Diener) in den großen Linien der Hochdramatischen, während der Graf (André Morsch) seinen unfruchtbaren Stammbaum mit Ausflügen ins Falsett illustrieren darf. Dass sie auch körpersprachlich individuell wirken, dafür hat die Regisseurin Nicola Hümpel in improvisatorisch angeleiteten Studien mit den Sängern gesorgt. Die Chefin der koproduzierenden Berliner Theatertruppe "Nico and the Navigator" findet ebenso wie ihre Kostümbildnerin Teresa Vergho feine Formen, soziale Schichten in der Gegenwart zu erzählen. Hier hat jeder seinen eigenen Sex. Die einen lassen Schaumstoffpolster anschwellen, die anderen zuzeln an Wiener Würstchen, die dritten pressen nur intensiv die Hände aufeinander. Nur eines macht zum Glück keines der Paare: sich ausziehen und die theatergängigen Sexsimulationen vorführen. Dafür lässt Hümpel sich intensiv auf die Atmosphäre der Partitur ein und sucht ebenfalls nach Leichtigkeit. Wozu nicht zuletzt die leicht irrsinnigen Kunststoffmöbel beitragen, die man schon von "Nico and the Navigator" kennt. Der Bühnenbildner Oliver Proske zwingt die Szenen nicht in ein Einheitsbühnenbild, sondern lässt die Räume spielerisch auseinander hervorgehen. Auf einer Leinwand im Hintergrund verstärken Videoprojekten (Judith Konnerth) hinreichend unaufdringlich die Mimik der Sänger. Das wirkt manchmal vielleicht etwas harmlos, ist dafür aber auch nie bedeutungsschwanger. Zeitgenössische Oper als Publikumserfolg, wie schön.
Eine starke Assoziation stellt Nicola Hümpel in den Raum bei ihrer Neuinszenierung…Die Vision Schnitzlers von einer totalen Entfremdung des nunmehr digitalen Ichs und der kollektiven Vereinsamung scheint sich erfüllt zu haben. Hümpel entwickelt ihre Diagnose in einem Kammerspiel – umso bezwingender, als sie sich zuvörderst für das Innere und Intime der Figuren interessiert. Passend hierzu stellt die Bühne von Oliver Proske in erster Linie die Personen selber aus – wie in einem Panoptikum.
Zwischen Bernhard Langs Oper «Der Golem», uraufgeführt in Mannheim, und der Stuttgarter Neuproduktion von Philippe Boesmans' «Reigen» nach Arthur Schnitzler gibt es überraschende Querbezüge. Sie stochern hektisch in ihren Smartphones herum. Video-Einblendungen spiegeln ihre Gesichter. Schon bald aber werden die Porträts von einer Hand weggewischt: als ob sie selbst bloss Angebote und Produkte auf einem Display wären, je nach Bedarf zu nutzen – oder kurzerhand zu löschen. Eine starke Assoziation stellt Nicola Hümpel in den Raum bei ihrer Neuinszenierung der Schnitzler-Oper «Reigen» von Philippe Boesmans an der Stuttgarter Staatsoper. Denn Hümpel denkt damit die Gesellschaftskritik weiter, die schon die Vorlage von Arthur Schnitzler klar umreisst – ist sein Skandalstück von 1897 doch weit mehr als eine Studie über Promiskuität und Sex zwischen Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft; bei Schnitzler wird vielmehr die gestörte Sozialität des modernen Menschen entlarvt. Intimität und Sex An diesem Punkt setzen Hümpel und ihre Berliner Kompanie Nico and the Navigators an: Noch nie waren Pornografie und Sexualpartner derart schnell, anonym und ungehindert zu haben wie im Zeitalter von Internet und sozialen Netzwerken. Die Vision Schnitzlers von einer totalen Entfremdung des nunmehr digitalen Ichs und der kollektiven Vereinsamung scheint sich erfüllt zu haben. Hümpel entwickelt ihre Diagnose in einem Kammerspiel – umso bezwingender, als sie sich zuvörderst für das Innere und Intime der Figuren interessiert. Videos, die sie erstmals integriert, zeigen die einzelnen Gesichter der Figuren, vergrössern wie Lupen ihre Reaktionen, fangen kleinste Regungen ein. Passend hierzu stellt die Bühne von Oliver Proske in erster Linie die Personen selber aus – wie in einem Panoptikum. Dabei profitiert die Inszenierung wesentlich von der einnehmenden Präsenz und dem glänzenden Spiel der Solistinnen und Solisten. Alle möglichen Gestalten vergnügen und verletzen sich hier: die Sängerin (Melanie Diener) und der Dichter (Matthias Klink), die Dirne (Lauryna Bendžiūnaitė) und der Soldat (Daniel Kluge), der Graf (André Morsch), der Gatte (Shigeo Ishino) oder die junge Frau (Rebecca von Lipinski). Manche von ihnen lässt Hümpel nervös herumzappeln, fast schon uniform und maschinell, womit die gestörten gesellschaftlichen Rollenbilder umso deutlicher werden. Damit verfolgt der Stuttgarter «Reigen» einen grundlegend anderen Ansatz als die jüngere «Reigen»-Oper, die der Österreicher Bernhard Lang für die Schwetzinger Festspiele 2014 kredenzt hatte. Während die Schwetzinger «Reigen»-Regie von Georges Delnon vorwiegend aufreizende Matratzen-Akrobatik in den Fokus rückte, geht es Hümpel um die verborgenen Sehnsüchte und Ängste dahinter. Wo vereinzelt absurde Kissenschlachten veranstaltet werden oder Ejakulate weit in den Theaterhimmel spritzen, wird die aktuelle und moralische Brisanz humorvoll gebrochen: Der Stuttgarter «Reigen» tappt auf diese Weise nicht in die simple Voyeur- und Sex-Falle. Damit schärft Hümpel nicht nur die Intention Schnitzlers, sondern auch die von Boesmans. So wie Schnitzler den Vollzug der Liebesakte durch Punkte aussparte, verzichtet Boesmans auf explizite Beischlafmusiken, etwa nach dem Vorbild des «Rosenkavalier»-Vorspiels von Richard Strauss oder der «Lady Macbeth von Mzensk» von Schostakowitsch. Überdies greift Hümpel die Personenführung auf, die in Boesmans' farbenreicher Musik angelegt ist. Ähnlich wie Lang arbeitet Boesmans im «Reigen» mit einer postmodernen Stilvielfalt. Doch während sich Langs Musik bald in beliebiger, quasiminimalistischer Redundanz erschöpft, nutzt Boesmans die Stilvielfalt, um die Figuren wirksam zu charakterisieren. Barocker Pomp, spätromantisches Pathos, Zitate oder Klänge der frühen Moderne: Das Repertoire des belgischen Komponisten ist reich. Dagegen bleibt bei Bernhard Lang die Stilvielfalt eher Selbstzweck. Darunter leidet auch seine neue Oper «Der Golem», die nun am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde, in einer dekorativen Regie-Installation von Peter Missotten. Die Vorlage bildet der gleichnamige, einst vielgelesene Roman von Gustav Meyrink, der 1915 erschienen ist. Hinter dem Golem verbirgt sich eine Kreatur, die alle 33 Jahre durch das jüdische Ghetto von Prag spukt. Sie erscheint dem Juwelier Athanasius Pernath (Thomas Berau), der prompt auf sonderliche Gestalten stösst – so beispielsweise den Trödler Wassertrum und seinen hasserfüllten Sohn (Alin Deleanu) oder die schöne Angelina (Astrid Kessler). Mit Klezmer- und Salonmusik, auch Pop- und Jazz-Klängen führt Langs Musik zwar in die jeweiligen Orte der Handlung, der Stoff selbst und die Figuren bleiben hingegen eintönig gezeichnet. Sogar im Vokalstil verzichtet Lang auf Differenzierungen, um stets zwischen Sprechen, Singen und Rezitieren zu changieren – vereinzelt gewürzt mit einem Schuss Lautmalerei. Das wirkt bald ähnlich austauschbar wie die ständigen Repetitionen, die zwar die Textverständlichkeit erhöhen, die Handlung jedoch allzu simpel herunterbuchstabieren. Dabei ist Meyrinks «Golem» nicht einfach ein Schauerroman, sondern basiert – seinerzeit höchst komplex – auf Erkenntnissen der modernen Traumpsychologie, orientalisch-okkulten Visionen, jüdischen Geheimlehren und nicht zuletzt auf der romantischen Phantastik eines E. T. A. Hoffmann. Sein und Schein Meyrink entwirft düstere Dämmerzustände des seelischen Innenlebens, bis sich die Grenzen zwischen Sein und Schein, Ich und Aussenwelt verwischen. Diese Mehrdeutigkeit bleibt in Langs Opernversion ungenutzt und ungehört – was die etwas pauschale musikalische Leitung von Joseph Trafton noch verstärkte. Dagegen glänzt Stuttgarts «Reigen» nicht zuletzt dank der mustergültigen Ausdifferenzierung von Boesmans' Partitur durch Sylvain Cambreling und das Stuttgarter Staatsorchester. Schon 1993 hatte Cambreling die Uraufführung der Oper am Brüsseler Théâtre de la Monnaie geleitet – seine Werkerfahrung und Hellhörigkeit kamen nun dieser wichtigen Neuproduktion zugute.
So ergeben sich Blickdramaturgien, die von erhabenem Pathos bis zu irritiertem Ekel reichen und selten zueinander passen. Allein ein tanzendes Paar, das als Film zwischendurch immer wieder zu sehen ist, bleibt als Utopie im Hintergrund, glücklich, gelöst, mit der Ahnung, dass körperliche Nähe und Liebe tatsächlich in Einklang zu bringen wären. Eine Vorstellung, die verblasst, aber zumindest nicht ganz so schnell weggewischt werden kann…
Radio Beitrag - höre Link Seinerzeit war Arthur Schnitzlers "Reigen" skandalös und wurde unter Verschluss gehalten. In den 90er-Jahren machte Philipp Boesmans aus dem Stoff eine Oper. Die Inszenierung in Stuttgart hievt ihn nun ins Hier und Jetzt - mit Witz und erstaunlich tonal. Zehn Paare, zehn Mal Sex? Zu sehen gibt es auf der Bühne davon nichts. Öffentlich verhandelt wird, was die wechselnden Geschlechtspartner davor und danach miteinander zu bereden haben. Als Arthur Schnitzlers "Reigen" 1920 uraufgeführt wurde, sorgte das Stück dennoch für Aufregung. Und zwar so große, dass der "Reigen" fortan unter Verschluss gehalten wurde. Erst 1982 durfte er wieder aufgeführt werden. Elf Jahre später hat der belgische Komponist Philipp Boesmans eine Oper daraus gemacht, uraufgeführt in Brüssel. Der Dirigent der Uraufführung, Sylvain Cambreling, ist mittlerweile Generalmusikdirektor in Stuttgart. Dort stand er gestern am Pult bei einer Neuinszenierung von Boesmans' "Reigen". Der Komponist wird nächste Woche 80 Jahre alt, inszeniert wurde seine Oper von einer 46-Jährigen, der Berlinerin Nicola Hümpel. Und sie hat das Stück tatsächlich in die heutige Zeit gerettet. Das "Rein-Raus-Spiel" auch als Bühnenbild Es scheint so, als habe Schnitzlers "Reigen" nur darauf gewartet, in Zeiten von Dating Apps und Cyber Sex auf die Bühne gebracht zu werden. Regisseurin Nicola Hümpel und ihr Team "Nico and the Navigators" haben das Stück jedenfalls ganz im Hier und Jetzt verortet. Immer mal wieder zückt jemand ein Handy, macht ein Selfie oder tippt etwas hinein. Nach der Begegnung gibt es ein Foto, das auf die Bühnenrückwand projiziert wird und dann wie bei den einschlägigen Apps üblich, zur Seite gewischt wird. Einer bleibt, der andere geht. Bahn frei für den nächsten Kopulationspartner. Reihum versuchen sie es miteinander: Dirne und Soldat, Soldat und Stubenmädchen, Stubenmädchen und junger Herr und so weiter. Die Bezeichnungen stammen noch von Schnitzler, die Figuren sind von heute. Die Bühne ist ein kalter Raum im Raum: Eine niedrige steingraue Decke bleibt immer gleich, für jede Begegnung werden von rechts zwei neue Wände hereingefahren, von links kommen die Sitz- oder Liegemöbel durch ein Loch in der Wand. Bühnenbildner Oliver Proske hat das alte Rein-Raus-Spiel fantasievoll auf die Bühne übertragen. Die Gleichung "neues Bett, neues Glück" geht dabei allerdings nie auf. Da, wo Arthur Schnitzler nur Gedankenstriche schreibt und der Fantasie des Lesers oder der Regie den Rest überlässt lässt, komponiert Philipp Boesmans mal eine gläsern zerbrechliche, mal eine harte mechanistische Musik des Zusammenseins. Das klingt überraschend tonal, in einer Mischung aus Alban Berg und französischem Impressionismus breitet Dirigent Sylvain Cambreling mit dem Stuttgarter Orchester eine große Farbpalette aus. Den Eindruck, dass sich auch die Komposition irgendwann im Kreis dreht und gut und gern eine halbe Stunde hätte gestrafft werden können, kann er aber nicht vermeiden. Insgesamt unterhaltsam und mit durchweg guten Sängern Weil die Regie das Thema eher auf die leichte Schulter nimmt, bleibt es ein insgesamt unterhaltsamer Abend. Sex zu sehen gibt es nicht, eher schon Dokumente seines Scheiterns. Und das ist oftmals ziemlich witzig. Der Soldat spritzt irgendeine Flüssigkeit über die Bühne bevor es überhaupt richtig zur Berührung kommt. Das süße Mädel beißt so herzhaft in eine Wurst, dass ihrem Gegenüber Angst und Bange wird. Junge Frau und junger Mann finden in einer viel zu schmalen Schaumstofflandschaft keine rechte Position. Per Live-Video sind die Gesichter in Großaufnahmen zu sehen, was in diesem Fall tatsächlich mal gut passt, weil sich die durchweg sehr guten Sänger auch als vorzügliche Schauspieler entpuppen. So ergeben sich Blickdramaturgien, die von erhabenem Pathos bis zu irritiertem Ekel reichen und selten zueinander passen. Allein ein tanzendes Paar, das als Film zwischendurch immer wieder zu sehen ist, bleibt als Utopie im Hintergrund, glücklich, gelöst, mit der Ahnung, dass körperliche Nähe und Liebe tatsächlich in Einklang zu bringen wären. Eine Vorstellung, die verblasst, aber zumindest nicht ganz so schnell weggewischt werden kann.
Die Exzellenz des (maßgeblich von der Operndirektorin Eva Kleinitz gepflegten) Stuttgarter Sänger-Ensembles war hier schon deshalb besonders deutlich zu spüren, weil die Regisseurin Nicola Hümpel mit jedem einzelnen Darsteller feine Charakterstudien erarbeitete; dass diese bis hinein in kleinste Zuckungen der Mimik reichten, fing eine Kamera ein, und die ineinander übergehenden Räume auf Oliver Proskes Bühne ergänzten das turbulent-ironische Spiel – ein Abend für Augen, auch schön.
Während der Intendanz von Klaus Zehelein wählte die Zeitschrift „Opernwelt“ die Stuttgarter Oper fünf Mal zum Primus inter Pares. Wenn der renommierte Preis nach zehn Jahren jetzt wieder nach Stuttgart geht, dann zeugt dies von der hohen Anerkennung für die Arbeit unter dem Intendanten Jossi Wieler. Stuttgart - Die Zeit war reif, schon lange. Seit mindestens zwei Jahren war das Team rund um den Intendanten Jossi Wieler ein heißer Kandidat für die bekannteste Auszeichnung, die es im Opernbetrieb gibt. „Opernhaus des Jahres“: Dieses Prädikat, das der prägendste Opernintendant Stuttgarts, Klaus Zehelein, während seiner 15-jährigen Amtszeit nicht weniger als fünf Mal für sein Haus errang, prämiert eine Einzigartigkeit, welche die Stuttgarter Oper heute wieder für sich reklamieren kann. 2016 fußt sie auf einem Spagat zwischen Hermetik und Öffnung, Konzentration und Vielfalt, Ernsthaftigkeit und lustvollem spielerischem Experimentieren – und auf einer respektvollen Behutsamkeit im Umgang mit Kunst und Künstlern. Dabei war der Weg hin zum bestehenden Zustand künstlerischer Glückseligkeit kein gerader. Es war der Weg eines Künstlers: eines sensiblen Regisseurs-Intendanten, der sich bei seinem Amtsantritt ein kleines, abgeschlossenes Opern-Elysium erträumte, in dem er gemeinsam mit festen Freunden Gültiges und Beständiges schaffen wollte. Dass er drei Jahre später seinen Kurs änderte, war ebenfalls die Entscheidung eines durch und durch künstlerisch denkenden Menschen, denn für den ist das Scheitern keine Niederlage, sondern immer nur das Ende eines Weges und der Beginn eines neuen. 2011 übernahm der Regisseur Jossi Wieler die Intendanz der Oper Stuttgart mit dem Ziel, dem rasant rotierenden Karussell der großen Namen und spektakulären Ereignisse im Opernbetrieb ein Modell entgegenzusetzen, das neu wirkte und doch schon vom legendären Berliner Regisseurs-Intendanten Walter Felsenstein Mitte des 20. Jahrhunderts praktiziert worden war: eine konzentrierte Musiktheater-Werkstatt, in der ein festes Team dem Kern des Zauberwesens Oper näherkommen sollte. Das Hermetische seines Entwurfs hat Wieler 2014 aufgebrochen: Die Hausregisseurin Andrea Moses ging, dafür kamen Regisseure mit sehr unterschiedlichen, meist starken, eigenständigen Handschriften, und in der Kombination mit den Inszenierungen Jossi Wielers und seines musikalisch, sprachlich und historisch überaus kundigen Dramaturgen Sergio Morabito ergab sich seither ein fruchtbarer Humus, auf dem die Kunst wächst, gedeiht und bunte Blüten austreibt. Das Ereignis der Saison: Kirill Serebrennikovs „Salome“ Für deren bunteste sorgte in der vergangenen Saison sicherlich Kirill Serebrennikovs spannende und bedrückende Inszenierung von Richard Strauss’ „Salome“, die im Wettlauf um die „Inszenierung des Jahres“ bei der „Opernwelt“ übrigens nur vom Monumentalereignis der Saison, Karlheinz Stockhausens „Donnerstag“ aus „Licht“ in Basel, überholt wurde. Anstelle schwülstiger Erotik gab es in Stuttgart einen sehr heutigen Psychothriller über eine deformierte Gesellschaft in Zeiten des Terrors. Und man erlebte zudem, was seit Jahren zum Markenzeichen des Hauses am Eckensee geworden ist: Musiktheater als Miteinander, als ein Wunderwerk des gemeinsamen Wirkens an der Kunst. Der Dirigent (Roland Klutting), das Staatsorchester, die Sänger (vor allem Matthias Klink als Herodes und Simone Schneider als Salome, beide im von Christian Gerhaher gewonnenen Sänger-Ranking der Fachzeitschrift ebenfalls ganz weit oben), die szenisch motivierte und eingebundene Videotechnik: Das war alles eins, und als Zuschauer der Stuttgarter Oper spürt man das als gebündelte Energie, die von der Bühne aus in den Saal hinein strahlt. Diese Energie hat sogar dort gewirkt, wo sich das Bemühen der Interpreten an einem leicht schwächelnden, weil musikalisch ein wenig klebrig geratenen Objekt abarbeitete: bei Philipp Boesmans’ Oper über Arthur Schnitzlers „Reigen“. Die Exzellenz des (maßgeblich von der Operndirektorin Eva Kleinitz gepflegten) Stuttgarter Sänger-Ensembles war hier schon deshalb besonders deutlich zu spüren, weil die Regisseurin Nicola Hümpel mit jedem einzelnen Darsteller feine Charakterstudien erarbeitete; dass diese bis hinein in kleinste Zuckungen der Mimik reichten, fing eine Kamera ein, und die ineinander übergehenden Räume auf Oliver Proskes Bühne ergänzten das turbulent-ironische Spiel – ein Abend für Augen, auch schön.
In Serebrennikov wie auch in Christoph Marthaler („Hoffmanns Erzählungen“) und Nicola Hümpel („Reigen“) hatte sich die Dramaturgie in der zurückliegenden Saison Widerparts gesucht, die sie braucht, um in der eigenen Bildersprache weiterhin souverän unterwegs zu sein. Alle drei legten Inszenierungen vor, wie sie der ehemals Hausregisseurin Andrea Moses nie in dem Maße gelungen sind: eigen verfasst, aber eben nicht davon besessen, eine Aktualität zu behaupten, die genau das nicht mehr ist, wenn sie überdemonstrativ daherkommt.
Nach einem Jahrzehnt ist die Stuttgarter Oper wieder zur besten des Jahres gewählt worden. Da fällt es ein bisschen schwer zu denken, dass in zwei Jahren die künstlerische Leitung in wechseln soll. Rückblick auf eine erfolgreiche Saison. In den siebziger Jahren hat Jossi Wieler, am Bodensee groß geworden, in Tel Aviv studiert und am Habima-Nationaltheater gearbeitet; man denkt da oft gar nicht dran. Das deutsche Theater kannte er vor allem aus Theaterzeitschriften, in denen zu dieser Zeit, als Botho Strauß noch Redakteur war und noch nicht National-Schriftsteller, vom Theater so gesprochen wurde, als sei es, mindestens stellvertretend, die Welt. Also: für sich und ganz im Ernst. Es war die Zeit von Peter Zadek, Peter Stein, Hans Neuenfels und Pina Bausch, und „genau dahin, wo die waren“, hat Jossi Wieler einmal erzählt – passenderweise saßen wir im Turmstüberl vom Münchner „Valentin-Musäum“, „da wollte ich auch hin“. Das hat dann soweit geklappt für den Fremden in der Fremde, bei dem man von Anfang an, also seit Bonner Schauspielzeiten im Werkstatttheater, das Gefühl nicht losgeworden ist, als wolle er, mit anlassgemäß wechselnden Mitteln, eigentlich immer nur eine Geschichte erzählen, weil es vielleicht – von der möglicherweise alle Konflikte überwindenden Liebe – auch nur eine Geschichte gibt, die das Erzählen immer wieder lohnt: die von Macht und Ohnmacht, die von Herr und Knecht. Wielers Bilder haben diese Qualität: dass sie einen durchs Leben begleiten, denken lassen, leiten manchmal auch. Zum Beispiel sein „Amphytrion“, eine Reckübung, gleichzeitig frei und getreu nach Heinrich von Kleist, die er 1985, vor mehr als dreißig Jahren, höchst eigenwillig turnen ließ durch Robert Hunger-Bühler – tatsächlich am Gerät und auf der Bühne, die damals bereits von Anna Viebrock gestaltet wurde. War das ein Gott, wie er schwang und redete und flog! Und war das eine Analyse, wie er, schwingend, die Sprache umrundete. Um doch wieder auf dem Boden zu landen, wo der Gehilfe Sosias gezwiebelt wurde, wie man nicht anders sagen kann. Im Luftballon über der Zeit Wielers gewagte Turnhallenakrobatik von dazumal kam einem wieder ins Gedächtnis, als man, buchstäblich Regiebauklötze staunend, in der Aufführung von Vincenzo Bellinis „I Puritani“ saß. Denn glasklar erkennbar wurde wieder einmal der vom Co-Regisseur Sergio Morabito noch bestärkte Wille quer zu denken, anders zu sein. Aber nicht aus Daffke oder weil einem nichts Besseres einfiele, sondern aus konsequenter Überlegung heraus. Es wurde also das Stück nur deshalb zum zeitgemäßen Stück (über Tugendterror, Religionsmissbrauch, Kadavergehorsam etc.), weil es in seiner Zeit belassen wurde, Jahrhunderte her. Und doch war es heutig, beklemmend nah in seiner Dramatik, die Wieler/Morabito nur selten ironisch aufbrachen. Wie, um mal Luft zu holen. Dem in der Luft liegenden Terror des 17. Jahrhunderts korrespondierte in dieser besonderen Spielzeit die gleichzeitig mit biblischer Wucht wie virtuos mit Video-und Live-Cam arbeitende Regiearbeit von Kirill Serebrennikov, der „Salome“ von Richard Strauss vor allem als Niedergang der Politgang um Herodes (hier: Herr und Knecht in einer Person) auffasste: nicht als schwüle, sondern als böse Parabel. Und, bitte: kein Mitleid. In Serebrennikov wie auch in Christoph Marthaler („Hoffmanns Erzählungen“) und Nicola Hümpel („Reigen“) hatte sich die Dramaturgie in der zurückliegenden Saison Widerparts gesucht, die sie braucht, um in der eigenen Bildersprache weiterhin souverän unterwegs zu sein. Alle drei legten Inszenierungen vor, wie sie der ehemals Hausregisseurin Andrea Moses nie in dem Maße gelungen sind: eigen verfasst, aber eben nicht davon besessen, eine Aktualität zu behaupten, die genau das nicht mehr ist, wenn sie überdemonstrativ daherkommt. Gut möglich, dass die Intendanz das Werbebild für die neue Spielzeit nicht von ungefähr gewählt hat: ein ganzes Großes Haus, mit lauter motivierten Leuten drin, hebt da nämlich in der Form eines Luftballons ab. Wo die Erde ist, wissen sie. Aber ein bisschen rauf wollen sie schon auch noch, wenn es geht. Ein Pfund, mit dem man wuchern kann Das Paradebeispiel „Salome“, eine Vorstellung, aus der die Menschen herauskamen, als hätten sie jeweils gerade frisch gelernt, das Wort Oper zu buchstabieren, lehrt im Übrigen, dass die Guten oft sehr nahe liegen, beziehungsweise arbeiten. Auf die Schnelle ersatzhalber gebucht wurde da nämlich der Coburger Opernchef Roland Kluttig, auf dessen „Parsifal“ in dieser Saison (in Coburg!) man gespannt sein darf. Kluttig ist ein Stuttgarter Gewächs aus der Lothar-Zagrosek-Zeit, dem damals schon die Dramaturgin Juliane Votteler (nunmehr Opernchefin in Augsburg) bescheinigte, er sei nicht nur „Transmissionsriemen“, sondern bereits groß in Eigenverantwortung. Wie groß die jetzt ist, hat Kluttig unter Beweis gestellt, als er Strauss so gut dosiert unter Strom setzte, dass schier die Wände wackelten in der Stuttgarter Oper. Neben dem GMD Sylvain Cambreling, der noch die nächsten zwei Spielzeiten unter der Intendanz von Jossi Wieler bestimmen wird, wären weitere Kapellmeister vom Kaliber Kluttig also sehr erwünscht und auf jeden Fall im Sinnes des Werkstattgedankens. Apropos, Werkstatt, Wände – und ja: wird die Auszeichnung zum „Opernhaus des Jahres“ durch die Zeitschrift „Opernwelt“ in dieser Hinsicht etwas einbringen? Dass jemand von der Politik ausgeguckt würde, der nichts Anderes machte, als sich drum zu kümmern, dass Pläne, so vorhanden, dann aber auch rasch in die Tat umgesetzt (wo es prinzipiell schon nach Zwölf ist)? Und dass, überhaupt, vielleicht mal versucht wird, mit einem solchen Pfund wie es nun mal eine solche Auszeichnung darstellt, zu wuchern? Deutschland hat, was man vielleicht nicht vergessen sollte, einige Großstadtopern, die kaum oder gar nicht mehr in Funktion sind: In Köln wird, wie in der Berliner Linden-Oper, scheint‘s ewig gebaut. Frankfurt, wo ein hervorragend geführtes Haus steht, sieht sich noch nicht zu kalkulierenden Umbaumaßnahmen gegenüber. Stuttgart hat, ein Blick ins geradezu pompös geförderte und geführte München reicht vielleicht als Warnung, eine Menge zu verlieren, und zwar mehr als einen Titel: sein Publikum.
Eine Produktion der Oper Stuttgart in Kooperation mit Nico and the Navigators.
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